Es ist ein bemerkenswert heller Tag in Berlin. Einer jener Tage, die sich mit Macht weigern widerzuspiegeln, wie einem die Welt da draußen vorkommen könnte. Der Himmel hängt geradezu grell vor den Fenstern. Aber daran liegt es nicht, dass Iris Berben ihre Augen hinter einer ziemlich gigantischen Brille verbirgt. Das dürfe man nicht als Anflug von Divenhaftigkeit missverstehen. Sagt sie.
Oder zum Verstecken von Müdigkeit. Iris Berbens Augen tränen wegen des Lichts. Zur Müdigkeit (und zur Traurigkeit) hätte sie allen Grund. Die Welt da draußen würde eine prima Entschuldigung dafür liefern. „Eine Realität, die man aus- und durchhalten muss“, sagt sie. Eine Realität, die sie sich weigert hinzunehmen.
Aufgewachsen sei sie in einer Zeit, sagt sie, in der man sich entscheiden musste, ob man sich mit einem geschmeidigen Dasein in einer zunehmend verkrustenden deutschen Wohlstandsgesellschaft zufriedengibt oder aufsteht, die Stimme erhebt, rebelliert. Und dass sie eigentlich ganz froh ist, dass sie sich entscheiden musste. Berben – 1950 in Detmold geboren, als wildes Kind mit einer alleinerziehenden Mutter, die früh nach Portugal zog, nach Hamburg gekommen ist, aufgewachsen bei den Großeltern, von drei Internaten geflogen – wurde Rebellin. Ist es heute noch. Will auch, hat sie mal gesagt, eine laute Neunzigjährige werden.
Jetzt ist sie gerade permanent unterwegs. Macht Werbung für das Audible-Hörspiel von Agatha Christies erstem Poirot-Roman „Das geheimnisvolle Verbrechen in Styles“. Hat mit Michel Friedman und Alina Buyx die Woche der Meinungsfreiheit eröffnet, war in der Frankfurter Paulskirche, hat in Wien mit israelischen Musikern unveröffentlichte Texte über den Holocaust vorgelesen, war in Leipzig die Stimme der niederländischen Holocaust-Überlebenden Chaja Polak, stellte in München József Debreczenis gerade wieder entdecktes Buch „Kaltes Krematorium. Bericht aus einem Land namens Auschwitz“ vor.
Dann starb Margot Friedländer, die kleine große Verbündete, die vielleicht leiseste und lauteste Stimme gegen jede Form von Hass und Ausgrenzung. Berben trauert immer noch um „dieses unendliche Wunder, diese Kraft, die aus dieser kleinen, zarten Person immer wieder kam“.
Und dann kam Senftenberg. Da gibt es das Friedrich-Engels-Gymnasium. Da haben 27 Schülerinnen und Schüler ein Buch geschrieben über Extremismus. Zwischen 15 und 18 Jahren alt. Das brandenburgische Senftenberg hat einen extrem hohen Anteil AfD-Wähler und eine extrem engagierte Geschichtslehrerin. „#Für Demokratie Gegen Extremismus“ heißt das Buch. Iris Berben hat die Texte gelesen und gestaunt. „Wie genau die beobachten, was sie für Vorstellungen haben, was sie sehen, was sie einfordern, wie analytisch sie sind.“ Sie hat das Vorwort geschrieben. Sie war im ausverkauften Theater, in dem es drei Sicherheitsleute gab, aber keine Störungen.
Im Büro stapeln sich Hassmails
Berben, die nicht müde wird gegen das Vergessen des Grauens im 20. Jahrhunderts durchs Land zu ziehen – mit Hitlers Tischgesprächen, mit den Gedichten der von den Deutschen ermordeten Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger, mit Texten von Anne Frank und Joseph Goebbels und immer wieder neu entdeckter Literatur aus dem Holocaust –, hätten Störungen nicht gewundert. Sie ist das gewohnt. In ihrem Büro stapeln sich Hassmails (von sogenannten sozialen Medien hält sie sich fern).
„Wir leben in einer Zeit, in der jeder Mensch, der eine Haltung vertritt“, sagt sie, „sich angreifbar macht, angegriffen wird.“ Von Zeitgenossen, die sich hinter der Anonymität verstecken, die das Netz ihnen vielfach bietet. Iris Berben würde lieber direkt in die Auseinandersetzung gehen, sagen: „Lass uns doch mal direkt reden darüber. Was ist denn dein Problem? Ich versuche jetzt mal, dich mit meinen Argumenten zu erreichen und du mich mit deinen.“
Funktioniert aber nicht. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst. Ihre Veranstaltungen mussten schon früher teilweise abgesagt werden, Lehrer kamen nicht mit ihren Schülern, weil sie die Verantwortung für sie nicht übernehmen konnten. Wütend macht sie das, aber das ist sie sowieso. „Zynisch gesagt“, sagt sie, „lernt man damit zu leben. Es fordert mich heraus, es löst Trotzigkeit bei mir aus.“
Ihre Stimme als Instrument hat sie übrigens erst spät entdeckt. Hat das Handwerk des Sprechens gar nicht so richtig gelernt. Weil sie nie auf einer Schauspielschule war und gewissermaßen von den Straßenprotesten in Hamburg direkt im Film der späten 1960er gelandet ist. Erst als sie mit dem Theater anfing, hat sie das mit dem Sprechunterricht nachgeholt. Und ihr ist über die Jahre immer bewusster geworden, was für ein wundervolles, machtvolles Instrument das Sprechen ist, wie man Figuren, Sprache, Literatur mit der Art und Weise formen kann, wie man etwas sagt.
Den richtigen Ton zu finden für eine Figur, ist ihr neben der Entwicklung eines jeweils ganz bestimmten Gangs (für den die Schuhe wahnsinnig wichtig sind) inzwischen der zentrale Weg in die innere Wahrhaftigkeit ihres Wesens. Bei historischen Figuren versucht sie Originalaufnahmen zu hören. Nicht um sie dann später zu imitieren, sondern um einen Klang für den Charakter zu finden. „Man übernimmt halt immer eine Verantwortung für eine Figur, wenn man sie spielt.“
Jahrzehnte des Sichunbeliebtmachens
Verantwortung übernehmen, sich einmischen und Anderen, Vergessenen, Leisen eine Stimme geben, ist ein roter Faden durch ihr Leben. Was allerdings wirklich hilft gegen Spaltung und Extremismus, das weiß auch Iris Berben nach Jahrzehnten des Sichunbeliebtmachens nicht. Man darf nur nicht aufhören, dagegen anzugehen. Sie versucht es immer wieder damit, Komplizen zu sammeln. Menschen aus ihrer Komfortzone zu holen. Gemeinschaften zu bilden gegen den Eskapismus, die Flucht vor den Herausforderungen der Gegenwart, gegen die Angst vor Veränderung und Krisenzeiten und gegen die, zitiert sie Papst Franziskus, Globalisierung der Gleichgültigkeit.
Iris Berben ist nominiert für THE POWER LIST – GERMANY’S TOP 50. Im Rahmen der POWER LIST kürt WELT ausgewählte Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Kultur und Sport: Menschen mit besonderem Profil, Einfluss – oder auch Potenzial. Wer prägt Deutschland 2025? Die finale Liste veröffentlichen wir am 5. Juni gemeinsam mit POLITICO Deutschland und BUSINESS INSIDER Deutschland. Alle Einträge finden Sie schon vorab hier.
Kultur könnte ein Mittel sein, Gemeinschaften zu bilden. „Menschen anzudocken, ins Überlegen bringen, ihnen Fragen zu stellen, sie Fragen stellen zu lassen.“ Aus der nur scheinbaren Sicherheit der Rationalität ins Emotionale zu kommen, an die Gefühle. Die eine Antwort gibt es ohnehin nicht, die einfachen Antworten, sagt sie, nie. In der Kunst, im Film, in der Literatur, dazu müsste Kulturpolitik ihnen nur den nötigen Freiraum geben, können Menschen auf der Suche bleiben, provozieren, zu weit gehen, Risiken eingehen dürfen – und einander ganz nahekommen.
Berben wird sich nicht zurückziehen. Sie wird weitermachen. Sie kann ja auch nicht anders. Vor allem, weil sich gerade herausstellt, dass viele jener mühsam von ihrer Generation gewonnene und lautstark auch auf der Straße erkämpfte Selbstverständlichkeiten eben nicht in so trockenen Tüchern sind. Nicht die Demokratie. Nicht die Frauenrechte und die gerade erst eingeführten Diversitätsregeln, die in allen Bereichen aus vorauseilender Feigheit vor Donald Trump wieder in Gefahr geraten.
Sie hält nicht still. Erwartet, fordert Engagement aber nicht ein von andern. Es gehöre, sagt sie, eben nicht zur gewissermaßen Arbeitsplatzbeschreibung von Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, ihre Stimme, ihre Popularität zu nutzen, etwas gesellschaftlich anzustoßen. Als sie sich mal lautstark für die SPD in den Wahlkampf einmischte, sei die erste Frage gewesen, ob sie nicht Angst hätte, ihre Fans zu verlieren. Hatte sie nicht. Hatte sie nie. Sie muss damit leben, dass manche Menschen nicht differenzieren können, sagt sie. Aber sich die Stimme verbieten lassen, kommt nicht infrage. „Ich könnte das sicher leiser machen, aber ich bin halt in einer Zeit aufgewachsen, in der es wichtig war, sehr laut zu sein.“
Kraft sammelt sie – das sieht nur auf den ersten Blick kurios aus – in der Welt. Weniger aus der Reibung an ihr allerdings, als aus dem Staunen, dem Wundern über sie. „Ich gucke gern. Ich glotze gern in die Welt.“ Auf Reisen, in Portugal, wo sie ein Teil des Jahres mit einer umfangreichen Menagerie auf dem Land verbringt. In Deutschland. Weil es ein freies Land ist, noch. Weil es ein schönes Land ist.
Überhaupt dürfe man über die Diskursgewitter und Debattenscharmützel und die schlechten Nachrichten und die um sich greifende schlechte Laune nicht vergessen auf die Schönheit des Lebens zu schauen, sagt sie. Und Iris Berben lebt wahnsinnig gern. „Ich liebe die Überraschungen, die es mir immer noch bereithält, das Leben. Liebe es neugierig zu sein.“ Die Fähigkeit, etwas zu erkennen, hört ja nie auf, sagt sie, „von mir aus könnte das bleiben, bis ich 103 Jahre bin wie Margot Friedländer“. Mindestens.
Langweilig jedenfalls wird ihr nie. Weil sie immer mindestens ein Buch bei sich hat (Iris Berben ist eine geradezu manische Leserin und eine ganz fabelhafte Vorleserin). Und weil „ich mich mit mir selber, mit meinen Widersprüchen, Leidenschaften, nicht langweile“.
Ein bisschen langweiliger könnte die Welt vielleicht doch werden, gibt sie zu. Und ein bisschen leiser. Weniger grell wie der Himmel. Aber jetzt muss sie schon wieder raus. Der Vertreter einer jüdischen Gemeinschaft wartet und dann der Bundespräsident. Ihre Stimme wird gebraucht.
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