Vor der Geburt geht es in den Vorbereitungskurs, nach der Geburt kommen Geschenke und Babyfotos. Dass wir eine Geburt feiern, uns darauf vorbereiten, in der Schule bereits im Sexualkundeunterricht über den Anfang des Lebens reden, erscheint vielen selbstverständlich. Mit dem Ende des Lebens gehen wir anders um, es ist häufig tabu. Ein Schulfach über «Sterben und Tod»? Eher schlecht vorstellbar.
Der Tod ist für Junge ein Thema
«Ein regelmässiges Schulfach dazu wäre uns auch zu viel», sagen Aurelia, 16, Christian, 16, und Soraiya, 17. Sie gehen ans Gymnasium Friedberg in Gossau (SG). Die drei machen im Gespräch deutlich, dass Themen wie Sterben, Tod und Verlust sie regelmässig beschäftigen.

«Als Kinder dachten wir, die Welt sei Friede, Freude, Eierkuchen», sagt Christian. Jetzt, mit 16, wolle er sich mehr an der Erwachsenenwelt orientieren. Da sieht er viel Gewalt, Krieg, Tod, vor allem durch die mediale Berichterstattung.
Auch sonst machen sich die Drei ihre Gedanken. «Wie ist es, wenn man alt ist?» Oder: «Was geschieht nach dem Tod?» «Lebt meine Oma noch, wenn ich sie das nächste Mal besuchen möchte?» Kinder und Jugendliche, sagt Soraiya, bräuchten immer jemanden, mit dem sie solche Gedanken besprechen könnten. Das kann auch in der Schule sein.
Auf Instagram haben wir nachgefragt: «Sollte das Thema Tod einen Platz haben im Unterricht?» Rund 2000 Userinnen und User haben geantwortet, fast 90 Prozent fanden: «Ja, das gehört dazu.» Das sehen auch die drei Jugendlichen am Gymi in Gossau so. Aber eben nicht als regelmässiges Schulfach.
Vielmehr schätzen sie es, wenn solche Themen in Form von Projekten oder als Modul behandelt werden, wie aktuell beim Thema Sterbehilfe. Die Klasse mit Schwerpunktfach Wirtschaft und Recht diskutiert rechtliche und ethische Aspekte zur Sterbehilfe und lernt, Standpunkte mit Pro- und Kontraargumenten zu vertreten.
Laut dem Lehrplan 21, der Grundlage für den Volksschulunterricht in den Kantonen der Deutschschweiz, sollen Kinder und Jugendliche lernen, über Grunderfahrungen zu sprechen und Normen und Werte zu diskutieren. Geht es dabei um Sterben und Tod, wird der Unterricht noch anspruchsvoller, als er sonst schon ist.
Negative Reaktionen der Eltern?
Bei diesen Themen kommen auch kulturelle und religiöse Aspekte ins Spiel, Eltern sehen es möglicherweise kritisch, wenn der Tod im Klassenzimmer diskutiert wird. Für viele Menschen gehören solche Themen in die Familie, nicht in die Schule.
Chantal Plüss kann diese Skepsis verstehen. Die 51-jährige Bernerin ist Pädagogin und ausgebildete Trauerbegleiterin. Sie hat für die Pädagogische Hochschule Bern ein Weiterbildungskonzept für Lehrkräfte entwickelt: «Verlust, Tod, Trauer – (k)ein Thema für die Schule?» Plüss sagt: «Viele Lehrkräfte haben Berührungsängste, das Thema in die Schule zu bringen, weil sie kritische Reaktionen aus dem Umfeld, vor allem von den Eltern befürchten.»

Allerdings sieht Chantal Plüss in der ganzen Gesellschaft Berührungsängste mit dem Tod. «Ich höre in der Trauerbegleitung von so vielen Menschen, die einen Todesfall erlebt haben und danach zum Beispiel von ihrem Umfeld gemieden wurden, weil die Bekannten nicht wussten, wie sie reagieren sollen. Für die Betroffenen ist das eine doppelte Verlusterfahrung.»
Dabei würden wir, gerade über die Medien, quasi dauerbeschallt mit dem Tod. Trotzdem hätten wir als Gesellschaft auch Angst, Kinder und Jugendliche mit dem Thema zu überfordern, wenn wir darüber reden.
«Trauer ist eine Grundemotion»
Tun wir das? Oder können Kinder und Jugendliche mit dem Thema umgehen? «Trauer ist eine Grundemotion, das können wir von klein auf», sagt Chantal Plüss. Aus Sicht der Expertin sind Kinder und Jugendliche kompetent für einen offenen Umgang mit dem Thema Tod, Sterben und Verlust.
«Wenn wir den Kindern das Thema zumuten, geben wir ihnen auch Fakten und Sicherheit. So können sie die Empathie entwickeln, die es braucht, wenn sie später im Leben auf trauernde Menschen treffen.» Mitentscheidend für den Umgang mit dem Thema in der Schule sei natürlich, dass man es altersgerecht aufbereite.

Das gilt auch für den Kindergarten, wo die Kinder dauernd Fragen zum Tod hätten, wenn sie zum Beispiel tote Tiere fänden. «Damals als Kindergartenlehrerin», erinnert sich Chantal Plüss, «habe ich mit den Kindern im Garten eine Regenwurm-Ambulanz eingerichtet. Auf diese Weise konnten wir alle Fragen spielerisch beantworten».
Gerade Kinder in diesem Alter seien sehr neugierig, sagt die Pädagogin. Aber auch von den Jugendlichen am Gymnasium in Gossau haben wir gehört, dass sie regelmässig Fragen zu Tod, Verlust, zum Ende des Lebens hätten.
«Letzte Hilfe»-Kurse
Die evangelisch-reformierte Kirche des Kantons Zürich führt in der Schweiz sogenannte «Letzte Hilfe»-Kurse durch, ursprünglich ein Konzept aus der Palliativmedizin in Deutschland, das heute in 23 Ländern weltweit existiert. In der Schweiz gibt es die Kurse seit 2017.
Seit zwei Jahren werden die Kurse nicht mehr nur für Erwachsene angeboten, sondern auch für Kinder und Jugendliche. Es geht darum, die Teilnehmenden auf den Umgang mit dem Ende des Lebens vorzubereiten oder auch Menschen zu begleiten, die betroffen sind.
Bisher haben hierzulande rund 10'000 Erwachsene in der Schweiz einen solchen Kurs besucht. Diese Zahlen kann man auch als Beleg dafür lesen, dass immer mehr Menschen, auch junge, ein Interesse daran haben, mehr über das Ende des Lebens zu lernen.
«Caring Community» fördern
Verantwortlich für die Kurse in der Schweiz ist Eva Niedermann. «Der Tod ist medial omnipräsent, aber auch demografisch drängt sich das Thema auf», sagt die Expertin. «In unserer Gesellschaft nimmt der Anteil an Menschen in der letzten Lebensphase stetig zu. Es wird darum auch für junge Menschen zunehmend wichtiger, einen eigenen Umgang mit dem Lebensende zu lernen.»
Eva Niedermann spricht auch davon, die gesellschaftliche Idee einer «Caring Community» zu fördern: «Einen fürsorglichen Umgang, nicht nur mit Sterbenden, sondern generell mit Menschen, denen es nicht gut geht: Das wollen wir stärken», sagt sie. Dazu könnten auch Kinder und Jugendliche auf ihre Weise beitragen.

Allerdings: In den Erwachsenenkursen in der Schweiz höre sie von den Teilnehmenden immer wieder, dass das Thema innerhalb der Familie zwischen den Generationen – zwischen Grosseltern und Eltern – tabu sei. «Wenn sich schon die Erwachsenen in Familien schwertun, miteinander über ihr Sterben zu sprechen, wie sollen es dann die Kinder lernen?»
Nicht drängen
Zurück am Gymnasium Friedberg in Gossau. Das Gespräch mit Aurelia, Christian und Soraiya neigt sich dem Ende zu. Eines ist Soraiya noch wichtig: Jedes Kind sollte jemanden haben, mit dem es über alles sprechen kann, auch über den Tod. Nur drängen sollten die Erwachsenen nicht: «Jugendliche sollten jederzeit kommen und fragen dürfen. Nicht umgekehrt, indem Erwachsene sagen: ‹Jetzt reden wir über das Sterben.›»
Das passt auch zu einem Gedanken, den Aurelia am Ende des Gesprächs äussert: «Ich habe oft Verlustängste, wenn über den Tod gesprochen wird. Darum rede ich meistens lieber über das Leben als über das Ende des Lebens.»
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