Der türkische Präsident ist aussenpolitisch sehr gefragt: Je länger die Kriege in Europa und im Nahen Osten andauern, desto wichtiger wird die Türkei als diplomatischer Vermittler, sagt die Autorin und Journalistin Çiğdem Akyol.

Gerade ist Akyols erster Roman «Geliebte Mutter» erschienen. Zuvor war sie vor allem als Türkei-Expertin der Wochenzeitung WOZ bekannt sowie als Autorin zweier Sachbücher, einer Biografie über den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan und über die Türkei als «Die gespaltene Republik». Wir haben bei den Solothurner Literaturtagen mit ihr gesprochen.

SRF: Wie läuft es derzeit für Präsident Erdogan?

Çiğdem Akyol: Aussenpolitisch steht die Türkei aktuell sehr gut da. Bei aller Kritik muss man anerkennen: Erdogan agiert auf internationalem Parkett äusserst geschickt, es läuft gut für ihn. In Syrien ist die Türkei ein zentraler Akteur, zur neuen Regierung dort bestehen enge Kontakte. Gleichzeitig unterhält Ankara gute Beziehungen zu Russland und liefert Drohnen an die Ukraine. Auch mit den USA und der EU ist man eng verbunden. Die Türkei ist zu einem unverzichtbaren geopolitischen Player geworden. Vom einstigen «kranken Mann am Bosporus» spricht heute niemand mehr.

Innenpolitisch gilt Erdogan aber als angeschlagen.

Ja, vor allem wegen der massiven Wirtschaftskrise. In Istanbul sind die Mieten in wenigen Jahren um 800 Prozent gestiegen. Viele Menschen arbeiten in zwei Jobs und können dennoch kaum ihre Grundbedürfnisse decken.

Erdogan nutzt seine geopolitische Rolle geschickt, um Europa unter Druck zu setzen.

Das Sozialsystem ist schwach, wer in Not gerät, kann kaum auf staatliche Hilfe zählen. Diese sozialen Missstände kosten Erdogan zunehmend Rückhalt in der Bevölkerung.

Legende: Die Autorin Çiğdem Akyol stellt ihren neuen Roman «Geliebte Mutter» vor: Die Geschichte einer türkischstämmigen Familie in Deutschland, die durch eine Zwangsehe zusammengehalten wird. Nach mehreren Sachbüchern über die Türkei ist es Akyols erster Roman. Keystone/Anthony Anex

Wie beurteilen Sie das Verhalten Europas gegenüber der Türkei?

Erdogan wird von Brüssel offen hofiert. Jüngst sprach sogar der NATO-Generalsekretär von «unserem Freund Erdogan» – während Oppositionsführer Ekrem Imamoglu im Gefängnis sitzt. Die Menschenrechte spielen dabei kaum noch eine Rolle. Dutzende kurdische Politiker und zahlreiche Journalistinnen und Journalisten sind inhaftiert. Erdogan nutzt seine geopolitische Rolle geschickt, um Europa unter Druck zu setzen.

Gibt es weiterhin Proteste gegen die Regierung?

Nicht mehr in dem Ausmass wie noch vor einigen Wochen, als Hunderttausende auf die Strasse gingen. Aber es gibt weiterhin kleinere Demonstrationen, etwa an Universitäten. Viele junge Menschen, die mit Erdogan aufgewachsen sind, fordern Veränderung.

Die kommenden Jahre werden entscheidend für die Zukunft der Türkei.

Vor allem die Generation Z sehnt sich nach mehr Freiheiten, wie sie in anderen Ländern selbstverständlich sind. Viele Studierende und Aktivistinnen sitzen jedoch weiterhin im Gefängnis.

Wie könnte die Türkei 2028 aussehen, wenn die nächsten Präsidentschaftswahlen anstehen?

Erdogan hat angekündigt, eine neue Verfassung erarbeiten zu lassen, gleichzeitig aber auch erklärt, nicht erneut kandidieren zu wollen – wobei er «dem Willen des Volkes» Rechnung tragen wolle. Das lässt Interpretationsspielraum offen.Klar ist: Der Machtanspruch Erdogans bleibt bestehen. Die kommenden Jahre werden entscheidend für die Zukunft der Türkei.

Das Gespräch führte David Karasek

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