Am Haus von Nils Westerboer, in wunderbarer Hanglage über dem Saale-Tal gelegen, ist eine Gedenktafel angebracht, wie sie sich in einer traditionsreichen Universitätsstadt wie Jena häufig findet. Die Inschrift lautet: „Benjamin Sisko. Offizier der Sternenflotte. *2332 +2375“, sie erinnert an eine Figur aus dem Star-Trek-Universum, der Hauptfigur der TV-Serie „Deep Space 9“ aus den 90er-Jahren. Aber was heißt hier „erinnert“? Die Inschrift nimmt ihn ja eigentlich vorweg. Der Insider-Gag enthält einen ernsthaften Gedanken: Denn wer weiß schon, ob der Weltraumheld Sisko hier in diesem malerischen Vorort von Jena nicht dereinst wirklich einmal wohnen wird, um sich von kalten, unendlichen Weiten zu erholen.
Dass die Erde in gut dreihundert Jahren noch ein heimeliger, bewohnbarer Ort sein wird, ist allerdings nicht übermäßig wahrscheinlich. Das Haus jedenfalls, in dem der Science-Fiction-Autor mit seiner Familie wohnt, wäre auf einen solchen Nachmieter vorbereitet. Überall in der Wohnküche stehen Lego-Modelle herum: Raumstationen, exotische, extraterrestrisch erscheinende Tiere, ein Baumhaus, Inselmodelle. (Westerboers haben drei Kinder, der älteste ist 13, die beiden 11-Jährigen sind zweieiige Zwillinge).
Vor einem Regal mit Brettspielen und Reiseführern stehen ausrangierte Klappsessel aus einem Kino, in der Mitte des Raums macht sich ein Schlagzeug breit, an der Wand hängen E-Gitarren und ein E-Bass, über der Treppe prangt ein Einhornkopf, als wäre er selbstgeschossen. Auf der Tür zu Westerboers Arbeitszimmer ein Poster mit der „Rebellin“ Prinzessin Leia, auf der Fensterbank ein Stück Fels, das aussieht wie Mondgestein, auf dem Lego-Astronauten krabbeln. Das ganze Haus wirkt wie ein Paradies für kleine und große Kinder.
Oder wie eine Heimatbasis für Weltenbauer, wie Nils Westerboer einer ist. Mit seinem 2022 in der Hobbit-Presse erschienenen zweiten Roman „Athos 2643“ katapultierte er sich in die Spitzengruppe deutscher Science-Fiction-Autoren. Sein Space-Thriller, eine interplanetarische Version von „Der Name der Rose“, handelt von einem Mordfall in einem Kloster auf einem Neptunmond. Künstliche Intelligenzen sind hier nicht nur Akteure, es wird sogar aus der Perspektive der KI-Assistentin des Ermittlers erzählt. Der Roman wurde mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet; eine Verfilmung ist in Vorbereitung.
In diesem Frühjahr erschien „Lyneham“ (ebenfalls bei Hobbit Presse), die Geschichte einer Familie, die von der nach der Klimakatastrophe unbewohnbar gewordenen Erde zu einem fernen Sonnensystem aufbricht. Ihre neue Heimat sollen sie auf einem Himmelskörper finden, der bereits von allerlei Weltraumgetier bewohnt ist und von unerklärlichen physikalischen „Anomalien“ gebeutelt wird. Terraforming als Lego-Basteln im planetarischen Maßstab.
Astrobiologisches Wissen
Wer diese Romane voll mit kosmologischem und astrobiologischem Wissen gelesen hat – auch sein Debüt „Kernschatten“ nimmt den Ausgang von einem Störfall im Forschungszentrum CERN – erwartet einen Naturwissenschaftler, mindestens einen Physiklehrer. Doch der 1978 im schwäbischen Gaildorf geborene Westerboer ist Lehrer für Deutsch und Religion; in Jena studierte er einst Medien und Pädagogik, bevor er auf Lehramt umschwenkte und in München evangelische Theologie und Germanistik studierte. Immerhin: Zwischenzeitlich arbeitete er als Kameraassistent bei Tierfilmproduktionen, ein finanziell prekäres Metier, das er mit Blick auf die private Lebensplanung zugunsten des Lehrerberufs aufgab.
Westerboer hat zuvor beim Bäcker verschiedene Streuselkuchen und Quarkschnitten besorgt, die er daheim in kleine Stücke schneidet und auf einem großen Teller so arrangiert, dass das Muster der kreisförmigen Raumstation auf seinem T-Shirt ähnelt. Richtige Sci-Fi-Nerds würden das gleich erkennen, so muss man erfragen, dass es sich um ein Motiv aus Christopher Nolans Film „Interstellar“ handelt. Westerboer macht Kaffee dazu. Das Schlagzeug spiele er selbst, erzählt er. Zuletzt musste die Hausmusik allerdings kürzertreten; für „Seven Nation Army“ reiche es aber noch.
Heute ist ein Schreibtag, zwei davon hat er in einer normalen Unterrichtswoche. Der Rest der Familie ist gerade in der Schule; auch seine Frau arbeitet als Lehrerin. Der erste Tagesordnungspunkt sei für ihn stets Brote-Schmieren, erzählt Westerboer. An diesem Morgen hat er noch Bewerbungs-Anschreiben der 8. Klasse korrigiert, aber spätestens um 9 Uhr räumt er sich den Küchentisch frei für Literatur.
Manchmal fängt auch an Schultagen sein Unterricht erst später an, dann setzt er sich nach drei Stunden Schreiben aufs Fahrrad und fährt die 12 km von Jena-Kunitz zur Schule im Plattenbau-Stadtteil Lobeda am anderen Ende der Stadt. Noch in Gedanken „voll drin, in allem“, kämen ihm dann oft gute Ideen, die er sofort ins Notizbuch schreiben müsse. Wir nehmen die Strecke per Familienauto, einem türkisfarbenen VW-ID Buzz, und machen halt an einem Stellplatz für Altpapiertonnen nahe dem Saale-Ufer, den Westerboer rituell als seinen Schreib-Zwischenstopp nutzt. „Das ganze Finale von ‚Athos‘ ist an dieser Stelle entstanden.“ Elfenbeinturm sieht definitiv anders aus.
Westerboers Schule heißt „Kaleidoskop“, der Name ist Programm, nicht nur wegen des sozial gemischten Einzuggebiets. Es ist eine Gemeinschaftsschule nach Jenaplan, dem pädagogischen Reformkonzept von Peter Petersen aus den 20ern des vergangenen Jahrhunderts. Es gibt jahrgangsübergreifende Lehrgruppen, viel freie Arbeit und Mitbestimmung. In Westerboers Medienunterricht beschäftigen sich die Schüler gerade mit Spieleprogrammierung. Er zeigt den Werkenraum, in dem er oft alleine sitzt, um die „Papiertonnen-Ideen“ vom Schulweg ins Reine schreiben.
Die Idee eines Weltraum-KI-Romans hatte er schon lange mit sich herumgetragen. Konkret wurde es mit „Athos 2643“ ausgerechnet in einer Phase, als gar keine Zeit für Schöpferisches war: das Haus noch eine Baustelle, mit den neugeborenen Zwillingen waren die Eltern „nur am Rotieren“. Da habe er gedacht: „Was ich jetzt nicht mache, das mache ich nie mehr“, und begann, anfangs immer nur 10 Minuten zwischendurch, die ersten Sachen für den Roman einzutippen.
Die Schule gibt es erst seit 2010, als 2014 die Oberstufe aufgebaut werden sollte, war Westerboer als Leiter vorgesehen. Als er zur gleichen Zeit für das Schreiben seine Unterrichtszeit reduzieren wollte, habe sein damaliger Chef gesagt, er müsse sich entscheiden. „Das war kurz frustrierend, weil ich damals gedacht habe, alles sei möglich“. Im Rückblick ist er froh, die Laufbahn im Schuldienst wäre zulasten der Literatur gegangen.
Der Schuldirektor empfängt uns für einen Plausch; er finde es gut, sagt er, wenn seine Lehrer sich auch anderen Dingen widmete. „Athos 2643“ hat er gelesen. Wenn Westerboer durch seine Schule führt, spürt man, dass er mit Leib und Seele Lehrer ist, allen Widrigkeiten zum Trotz. „Es ist anstrengend und nervig, aber du stellst dir nie die Sinnfrage.“ Das gelte allerdings auch für die Literatur: „Lehrer und Autor sind beides sehr privilegierte Tätigkeiten“.
Auf dem Rückweg machen wir in der Jenaer Altstadt halt. In einem Café beim Johannisplatz essen wir deftige Kartoffel-Pfannen und reden über Einflüsse und Vorbilder, auch über die philosophischen Fragen, die die Romane aufwerfen. „Athos 2643“ stellt die klassische Frage des Turing-Tests nach der Grenze zwischen Mensch und Maschine radikal neu: Was bedeutet es für künstliche Intelligenzen, moralisch zu handeln? Was, wenn für die alles überwachenden Rechner die Rettung der Menschheit mit dem Leben einzelner in Konflikt gerät? Ist eine KI zuverlässiger Erzähler? Science-Fiction-Klassiker von Philip K. Dick über Stanislaw Lem bis zu Isaac Asimovs Roboter-Gesetzen sind in „Athos“ immer präsent.
„Lyneham“, der neue Roman, fragt nach dem Recht des Menschen, für sein Überleben in die Natur eingreifen zu dürfen. Zugleich geht es um Familie: Erzählt wird die Geschichte vom Ankommen in einer fremden, feindlichen Welt aus der Sicht eines Kindes, das seinem Vater bedingungslos vertrauen muss, aber erfährt, dass ihm Wahrheiten vorenthalten werden. Selbst der Schulunterricht spielt eine Rolle – „Frau Strom“, die KI-Lehrkraft der Kinder, war einst eine intelligente Bohrmaschine und erteilt nun Frontalunterricht. Lehrer sein bedeutet, dicke Bretter zu bohren.
Ein Augenöffner seien für ihn die „Hyperion Gesänge“ von Dan Simmons gewesen. Weil der eigentlich ein Horrorautor ist, habe er sich um die Regeln des Genres nicht geschert. „Das ist so eine befreiende Art zu schreiben und World-Building zu betreiben. Ein Schreiben, das sich nicht rechtfertigt, das nicht glaubt, alles erklären zu müssen, weil du eine kleinäugige Leserschaft vor Augen hast, die alles auf Fehler abklopft. Einfach erst mal machen, weil es sich richtig anfühlt.“
Wir schlingen das Essen herunter, Westerboer muss den jüngeren Sohn noch vom Kung-Fu-Training abholen. Auch der Rest der Familie ist inzwischen zu Hause eingetroffen, Trubel um den Küchentisch, noch mal Kaffee. Kurz wird das Elektroauto aufgeladen, dann geht es los zu einer Lesung nach Leipzig, die der lokale „Freundeskreis Science Fiction e.V.“ veranstaltet. Im Haus des Buches hält Westerboer einen Vortrag, er zeigt detaillierte Karten von seiner Weltraum-Kolonie und packt aus einem Lederkoffer, der mit Travel-Aufklebern aus fremden Galaxien beklebt ist, seine KI-Romanfiguren als Lego-Modelle aus: Auch Frau Strom ist im Miniaturformat dabei.
In der spärlich besetzten Cafeteria sitzen überwiegend ältere Herren (und einzelne Damen), die Star-Trek-Shirts tragen. Dass Science-Fiction in Deutschland immer noch ein Nischenphänomen ist, hat nichts mit ihrer literarischen Qualität zu tun. Die großen Erzählungen über eine von künstlicher Intelligenz geprägten Welt, in der unsere Kinder leben werden, sie sind schon da; sei diese Zukunft nun strahlend hell oder düster katastrophisch.
Nach der Veranstaltung geht es noch in ein Restaurant; Westerboer muss früh wieder los, zurück zum Heimatplaneten. Am nächsten Tag hat er Schule.
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