Vor 25 Jahren bringt Eminem mit "The Marshall Mathers LP" die Massen zur Verzweiflung: Rohe und gewalttätige Texte führen gar zum Zoff mit der Frau des US-Vizepräsidenten. Das Album macht den Rapper zum Antihelden einer gebrochenen Generation - und hinterlässt noch heute Spuren.

Wut. Empörung. Verzweiflung. Als Eminem vor 25 Jahren sein Album "The Marshall Mathers LP" veröffentlicht, steht die Welt kopf. Vor allem für die konservativen Teile der USA sind die 72 Minuten und 17 Sekunden des Rappers aus Detroit ein Akt der Gottlosigkeit. Der Verrohung der Werte. Der Provokation. Bis heute hat kaum ein Album derart harsche Wellen der Kritik geschlagen - und gleichzeitig den Legendenstatus für eines der prägendsten und erfolgreichsten Musikwerke im Hip-Hop erreicht.

Die "Marshall Mathers LP" ist das dritte Studioalbum des Rappers, der mit bürgerlichem Namen Marshall Bruce Mathers III. heißt, und das zweite unter der Regie von Produzentenlegende Dr. Dre. Es bricht schnell Verkaufsrekorde, gewinnt mehrere Grammy Awards und katapultiert Eminem in die Reihen der größten Rapper aller Zeiten. Erst durch dieses Werk, wenngleich der Vorgänger "The Slim Shady LP" äußerst erfolgreich war, steigt der damals 27-Jährige zu einem kulturellen Phänomen auf. Zum Krieger einer gebrochenen Generation, der er den dunklen Schatten des American Dream vorhält.

Doch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der 18 Songs (darunter vier Skits), die zum Teil aus der Zunge von Eminems wütendem, bösartigem und unverfrorenem Alter Ego Slim Shady stammen, ist die Welt zunächst einmal in einen Schockzustand versetzt. Und Eminem weiß genau, was er da veröffentlicht hat. Direkt am Anfang des Albums teilt er seinen Hörern mit, ihn doch bitte einfach zu verklagen.

Lynne Cheney vs. Eminem

Was folgt, fasziniert die Massen und raubt ihnen gleichzeitig den Atem. Mit seiner Dreifaltigkeit von Identitäten - neben dem Soziopathen Slim Shady gibt es noch den Battle-Rapper Eminem und den normalen Typen aus Detroit mit alltäglichen Problemen namens Marshall Mathers - haut der Rapper den CD-Käufern damals einen niemals dagewesenen Mix aus rohen, gewalttätigen, sexistischen und homophoben Texten, mehrsilbigen Spottversen, metrischen Flow-Slaloms der Verachtung und lustigen Comic-Stimmen um die Ohren.

Meint der Typ das ernst? Diese Frage treibt die Menschen damals um, der Rapper fordert sie förmlich dazu heraus. Was heute in der Streaming-Flut von Veröffentlichungen nicht mehr so einfach nachvollzogen werden kann: Eminem wird mehr oder minder unfreiwillig zu einem Kulturkrieger. Zum meistdiskutierten Künstler der Welt, der für einen Wendepunkt in der westlichen Popkultur sorgt. Und zu einer vulgären Gefahr für das öffentliche Leben in den USA: So sieht das vor einem Vierteljahrhundert zumindest Lynne Cheney, die Ehefrau des damaligen US-Vizepräsidenten Dick Cheney.

Sie verurteilt das Album in einer Anhörung vor dem US-Senat und wirft Eminem vor, "Gewalt gegen Frauen in ihrer entwürdigendsten Form zu verherrlichen". Cheney bezieht sich vor allem auf den Song "Kill You", in dem Slim Shady seine eigene Mutter vergewaltigt und sich als denjenigen beschreibt, der "die Gewalt erfunden hat". Deshalb fordert Cheney strengere Vorschriften für Musik mit gewalttätigen Inhalten. Auch bei einer weiteren Anhörung, diesmal im US-Repräsentantenhaus, wird Eminem zum Prügelknaben, als die damalige republikanische Abgeordnete Barbara Cubin der Musikbranche sagt, sie "sollte sich schämen, dass so etwas als preisgekrönte Unterhaltung gilt".

"Schwer gestörte Persönlichkeit"

Eminem löst mit seinem Album eine weltweite Kontroverse aus. In Kanada fordert der damalige Generalstaatsanwalt von Ontario, Jim Flaherty, den Rapper an der Grenze zu stoppen. In Großbritannien verbannt die Studierendenvereinigung der University of Sheffield alle Songs von Eminem aus dem Programm des Campusradios und von den Disco-Abenden auf dem Campus und verbietet das Tragen von Eminem-T-Shirts bei Veranstaltungen. Obwohl Eminem viel Lob aus der Musikszene erhält, sind auch dort nicht alle Kritiken positiv. Manche Albumkritik erkennt gar "eine schwer gestörte Persönlichkeit".

"Kill You" und der Track "Kim", in dem Eminem detailliert den fiktiven Mord an seiner Ex-Partnerin beschreibt, sind zwei der extremsten Beispiele auf dem Album, mit denen der Rapper seine Kunst bis zum Äußersten treibt, um eine Schockwirkung hervorzurufen. Gerade bei "Kim" geht es Eminem aber nicht um Gewaltverherrlichung, sondern es entsteht ein verstörendes Kunstwerk über die Brutalität und Ohnmacht häuslicher Gewalt von Männern.

Eminem steht ohnehin für etwas Tieferes als blinde Wut. In mehreren Liedern merkt er außerdem an, dass seine Ausbrüche als Unterhaltung gedacht sind und dennoch von leicht zu beeindruckenden Menschen zu ernst genommen werden. Gleichwohl muss Eminem sich damals wie heute Kritik gefallen lassen, weil jeder Künstler für die Bilder, die er projiziert und die für bestimmte Menschen beleidigend sein können, verantwortlich ist.

Stan - visionär, düster, meisterhaft

Eminem gelingt es damals wie keinem anderen, den Nerv der Zeit zu treffen. Und die Mauern der politischen Korrektheit und der amerikanischen Anständigkeit einzureißen. Mal kritisiert der Rapper den ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton für seine Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky oder weiße Vorstadt-Eltern, die ihre Teenager nicht im Griff haben und lieber Musiker wie ihn selbst oder Marilyn Manson für ihre Probleme verantwortlich machen ("Who Knew"), mal prangert er korrupte Priester ("Criminal") und den Fall O.J. Simpson an ("Kill You"). Und ganz dem Muster folgend bekommen auch die Pop-Sternchen Christina Aguilera ("The Real Slim Shady", der größte Hit des Albums) und Britney Spears ("Marshall Mathers") ihr Fett weg.

Aber bis heute gibt es nichts in Eminems Repertoire, das so hart zuschlägt wie "Stan". Der tiefgehende, visionäre und herzzerreißende Song, ein Meisterwerk des komplexen Storytellings, zeigt die gefährlichen, dunklen Seiten des Ruhms und fanatischer Fangemeinden auf. "Stan" ist ein düsterer Thriller, der die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der eine parasoziale Beziehung zu Eminem führt. Der Text nimmt den Lärm der heutigen sozialen Medien vorweg, wo Online-Hass gegenüber Personen des öffentlichen Lebens zur Normalität verkommen ist - und der Begriff "Stan" (setzt sich aus "Stalker" und "Fan" zusammen) wird zehn Jahre nach der Veröffentlichung im Oxford Dictionary als Slangwort für einen extrem besessenen Fan aufgenommen.

25 Jahre nach der Veröffentlichung von "The Marshall Mathers LP", in einer Zeit, in der Künstler deutlich mehr darauf achten, niemanden zu beleidigen, um nicht in eine Cancel-Kontroverse zu schlittern, wirken Eminems Songs umso schockierender. Doch indem er deutlich introvertierter und persönlicher über seine Kindheit in der Armut und seine gequälte Seele rappt als zuvor, wird Eminem damals zum gefeierten Antihelden und verkörpert plötzlich den "kleinen Mann" in den USA. Die vergessenen Arbeiter, die Malocher. Die Verlierer, deren Geschichten zeigen, dass der American Dream zerbrechlich und nicht mehr als ein Mythos ist. Dafür sorgt schon das Albumcover, auf dem der Rapper vor seinem heruntergekommenen Elternhaus hockt.

Antiheld in Zeiten des zerbrochenen American Dream

Zwar nehmen vor einem Vierteljahrhundert alle - von den harten Jungs der New Yorker Straßen über die Hollywood-Stars in Los Angeles bis hin zu den Soccer-Moms in den Kleinstädten - am musikalischen und kulturellen Ereignis von Eminems Album teil, doch besonders weiße Jugendliche der Mittelklasse fühlen sich verbunden.

Sie lieben die blondierten Haare des Rappers und den Mittelfinger gegen alle, sie träumen im langweiligen Vorstadtleben davon, so rebellisch zu sein wie er. Sie fühlen seine wütende Energie und wollen mit den kontroversen Songs ihre Eltern zum Ausflippen bringen. The Marshall Mathers LP ist das perfekte Album für Teenager-Unzufriedenheit, wie "The Real Slim Shady" es in zwei Sätzen perfekt darlegt: "Will Smith muss in seinen Raps nicht fluchen, um Platten zu verkaufen. Ich schon, also fick ihn und fick dich auch!"

Provokant, ironisch, gewalttätig, tabubrechend, grotesk, düster und außergewöhnlich: The Marshall Mathers LP hat zukünftige Rapper wie Kendrick Lamar, Juice WRLD oder Tyler, the Creator geprägt und bei einer gesamten Generation kulturelles Aufsehen erregt. Mittlerweile wird Eminems umstrittenes Album unter den "Rolling Stone's 500 Greatest Albums" und "Time's 100 Greatest Albums" geführt, doch damals schockt ein blondierter Rüpel die Massen - und mutiert gleichzeitig zum Vorbild eines gebrochenen Vorstadt-Amerikas.

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