Vielleicht ist die Welt ja wirklich wie die Straßen von Wien und dieser Sonntagabendkrimi. Ein Durcheinandertal, ein explosives. Der Himmel hängt voller Hubschrauber. Alles schreit. Alle gehen gegen alle an. Und alle vor allem gegen den Staat.

Die Bilder flackern, geben keine Ruhe. Österreich explodiert. Kategorien wie Recht und Ordnung sind Vergangenheit, die Staatsbediensteten und die Staatsfeinde radikalisieren sich um die Wette. So etwas wie Linke und Rechte gibt es nicht mehr. Alles löst sich auf.

Brandgeruch liegt in der Luft. Und ein Toter auf dem Asphalt. Flugblätter mit der Aufschrift „Wir sind nicht zu fassen“ fliegen um ihn herum. Eine Demonstration von Staatsfeinden ist eskaliert. Die Protestler wollten das Regierungsviertel stürmen. Der Tote war ganz vorn mit dabei.

Menschen schreien, rennen, flüchten. Einen chaotischeren Tatort (im Wortsinn) haben Majorin Bibi Fellner und Oberleutnant Moritz Eisner noch nicht gesehen. Ordentlicher aber wird es nicht werden. Übersichtlicher schon gar nicht.

Rupert Henning, Drehbuchverantwortlicher und Regisseur des 36. Falls für Bibi und Moritz, bemüht sich (und das kann er gut), alles zu verwischen: die Chronologie und die Weltbilder auch. Zugleich zieht er überall und um fast jede seiner Figuren Mauern hoch, gegen die sie dann anbrüllen und anrennen können.

Wobei sich natürlich nicht alles auflöst. Die Nabe des großen Rads, das Henning hier dreht, sind die beiden Wiener Kommissare, die gerade angekündigt haben, im kommenden Jahr den Dienst zu quittieren. Wie ein altes Ehepaar stehen sie im Auge des gesellschaftlichen Sturms um sie herum, schauen und staunen.

Kamillentee hilft immer

Und immer dann, wenn Hennings Politthriller zu verschwitzt wird und mit klugen Erklärbärdialogen auf den zunehmend orientierungslosen Zuschauer eindrischt wie Polizisten in Staatsgegner-Videos auf Demonstranten, immer dann streuen sie einen herrlichen Schmäh ins Getriebe.

Einmal, als der Moritz sich wieder aufgeregt hat wie weiland das HB-Männchen, bietet Bibi ihm Kamillentee an. Rührend ist das, man mutmaßt schon, die beiden könnten das erste „Tatort“-Duo sein, das am Ende nicht in der Pathologie landet, sondern vor dem Traualtar.

Aber zurück zu den Staatsfeinden. Jakob Volkmann heißt der Tote. Wie er – er stammt aus gutem Hause, wahrscheinlich konnte er Klavier spielen – unter die Staatsverschwörer geriet, erzählt Henning in Rückblenden. Die man, auch das ist Teil seines Kalküls des ständigen Durcheinanderbringens, des Tanzenlassens von Gewissheiten, nicht immer als solche erkennt.

Die Familie, die sich über die Radikalisierung ihrer Kinder am Mittagstisch unheilbar in die Haare kriegt, ist einer von vielen Kriegsschauplätzen, in die der Moritz und die Bibi von Henning geschickt werden. Und überall fliegen ihnen die ideologischen und gesellschaftlichen Explosivstoffe um die Ohren.

Die Polizei igelt sich ein und schießt scharf gegen jeden auch nur angedeuteten Vorwurf, sie habe Jakob Volkmann zu Tode gebracht. Sie fühlt sich wie der Prügelknabe eines von allen Beteiligten als fadenscheinig empfundenen Staates, der nicht mehr zu verteidigen scheint.

Sonden im Herz der Gegenwart

Die „Schlapphüte“ vom Staatsschutz spielen derweil ihr eigenes Spiel. Es gibt linke und rechte Verschwörungsschwurbler, die sich wiederum untereinander nicht grün sind und gegenseitig verdächtigen. Eine Organisation, die sich KAPO nennt, was „Kampfbereite außerparlamentarische Opposition“ bedeutet, zieht im Hintergrund ihre Fäden und arbeitet am Sturz „des Systems“.

Henning hat alles an Phänomenen in sein gesellschaftliches Wimmelbild gepackt, von dem westliche Demokratien durcheinandergebracht worden sind, seit die ersten Querdenker auf den Straßen ihre Schilder gegen die Coronamaßnahmen in die Höhe gehalten haben. Er wertet allerdings nicht, er beobachtet nur, hält seine Kommissare, die er als Sonde im Herz der Gegenwartsfinsternis nutzt, auf Äquidistanz zu all dem Irrsinn, der tatsächlich nicht zu fassen ist.

Am Ende wird natürlich alles gut – das darf man verraten, wir sind ja schließlich im Sonntagabendkrimi. Nicht alles ist aufklärt, aber die Sonne scheint wieder. Und der Moritz steht unter einem blauen Himmel auf dem Land, die Hubschrauber fliegen zurück in die Stadt. Und er sagt: „Schaut alles so nett aus von da oben.“ Das ist schön gesagt. Aber natürlich eine Illusion. Nett wird es nicht bleiben. Er muss ja noch dreimal mit der Bibi zurück in den Morast von Wien.

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