Dass ein Theaterstück erst über 80 Jahre nach seiner Entstehung uraufgeführt wird, ist ungewöhnlich. Nicht weniger ungewöhnlich ist die Geschichte dazu: Erst vor wenigen Jahren wurden im Nachlass der Schriftstellerin Maria Lazar nicht nur Kurzprosa, Essays und ein bis dahin völlig unbekannter Roman („Es kam ganz von selbst“) gefunden, sondern auch einige Theaterstücke, darunter das kleine Meisterwerk „Der blinde Passagier“.

Lazar, die in der Zwischenkriegszeit als vielversprechende Autorin der Wiener Moderne galt, floh 1933 mit Bertolt Brecht und Helene Weigel nach Dänemark. Ihre jäh unterbrochene Karriere kam nie wieder in Fahrt, 1948 setzte die schwer Erkrankte ihrem Leben ein Ende. Während Lazar als Schriftstellerin dem Vergessen anheimfiel, lagerte ihr literarisches Vermächtnis unbesehen in schweren Metallkisten.

Der Verlag DVB (für: Das vergessene Buch) hat das Werk von Lazar in den vergangenen Jahren zum Glück wieder zugänglich gemacht, unter anderem mit dem Band „Die vergessenen Theaterstücke“. Und tatsächlich hat Lazar ihren Weg auf die Bühne gefunden: So wurden „Der Henker“ und „Die Eingeborenen von Maria Blut“ am Wiener Burgtheater aufgeführt, vor wenigen Wochen erst kam die groteske Weltuntergangskomödie „Die Hölle auf Erden“ in Graz auf die Bühne, wo auch schon „Der Nebel von Dybern“ gegeben wurde. Und nun wurde endlich am Düsseldorfer Schauspielhaus „Der blinde Passagier“ erstmals aufgeführt, bereits in wenigen Tagen folgt das Staatstheater Mainz mit einer weiteren Inszenierung. Was Lazar in ihren letzten Lebensjahren verwehrt blieb, bekommt sie heute mit Verspätung: die völlig verdiente literarische Anerkennung.

Durch eine kleine Luke unter Deck

Regisseurin Laura Linnenbaum bringt „Der blinde Passagier“ als klares und intensives Kammerspiel auf die Bühne, auf die Daniel Roskamp ein zum Saal hin aufgeschnittenes kleines Schiff gestellt hat. Das von Philipp Baesner in robuste, graue Gewänder gekleidete Ensemble spielt in der beklemmenden Enge dieser gebauten Vorgabe: Durch eine kleine Luke führt eine Leiter unter Deck, wo die Schauspieler den Kopf einziehen müssen, um ihn sich nicht zu stoßen. Die gebückte Haltung passt zu der Welt der Handlung: Ein von den Deutschen verfolgter Jude flüchtet sich auf das Schiff, das Kurs auf einen dänischen Hafen – den rettenden? – nimmt. Das ganze Stück dreht sich darum, unter beengten Verhältnissen den moralisch aufrechten Gang nicht aufzugeben, auch wenn es einem niemand lohnt und man vermutlich sogar irgendwo anstößt.

Das Geschwisterpaar Carl und Nina, gespielt von Michael Fünfschilling und Fnot Taddese, fischt in einer kalten Nebelnacht einen Flüchtigen aus dem eisigen Hafenwasser. Dass sie damit gegen das herrschende Recht verstoßen, das ihnen als Unrecht der Herrschaft erscheint, ist ihnen klar, weswegen der Fremde versteckt wird. Bald aber wissen Ninas Verlobter Jörgen (Florian Lange) und auch der Kapitän und Vater der beiden (Rainer Philippi) Bescheid. Doch was für die Geschwister in einer Mischung aus Herzensinstinkt und Seefahrerehre selbstverständlich ist, müssen sie gegen das Unverständnis der beiden Männer verteidigen. Während dem Kapitän die Gesetzestreue mehr gilt als der gelebte Humanismus, finden sich auf dem Grund des eifersüchtigen Herzens von Jörgen vergiftete Ressentiments über den „Judenbengel“.

Mit der Kälte eines Macbeth

Während draußen ein Meer aus Gewalt und Verfolgung tobt, muss die kleine Gemeinschaft in der Kajüte über die Maßstäbe ihres Handelns befinden – und zwar im Angesicht dessen, dass dem von Mila Moinzadeh gespielten Hartmann der Tod droht. „Was haben Sie verbrochen?“, fragt der Kapitän. „Ich bin Jude“, bekommt er zur Antwort.

Wenn Recht und Gesetz aus den Angeln gehoben werden, welche Moral gilt dann noch? Ist die Moral notwendig aufs Private beschränkt oder muss sie sich, wie die Aufklärung forderte, in der Öffentlichkeit bewähren und allen Gewalten trotzen? Gibt es eine Verantwortung gegenüber der großen Familie der Menschen oder sorgt man immer nur für die eigene? Kann es eine über den kleinen Kreis der Allernächsten hinausreichende Nächstenliebe geben? Bei Lazar werden die Widersprüche zugespitzt: In einer bösen Welt werden Feigheit und Unentschiedenheit zu Komplizen des Bösen.

„Was geht er uns an?“, fragt Jörgen, dem man leibhaftig dabei zuschauen kann, wie er sich erst als notorisch moralisch unzuständig deklariert, bevor er zum Vorurteil greift, weil er den Fremden als Störenfried seiner kleinen Besitzwelt wahrnimmt. „Es geht uns etwas an“, ruft hingegen Carl aus, der einen praktischen Universalismus vertritt, den Linnenbaum ins Libidinöse verlängert, wie es auch bei Nina bereits im Text steht. Helfen werden weder der eine noch die andere dem Verfolgten, ihre Mittel sind zu beschränkt. In der unheimlichen Schlussszene taucht noch ihre Mutter (Minna Wündrich) auf, die das wohl erschreckendste Beispiel der zutiefst falschen Idee einer friedlichen Koexistenz mit der Gewalt bietet. „Einen anderen Platz hätte er sich schon aussuchen können“, sagt sie mit der Kälte eines Macbeth, als sich Hartmann am Ende aus Hoffnungslosigkeit erschießt.

An einer Stelle in „Der blinde Passagier“ heißt es, dass kein Mensch, sondern ein Schicksal auf das Schiff gekommen sei. Es ist kein Fluch der Götter, sondern einer der Gesellschaft, der auf dem verfolgten Juden lastet. Doch wo das Schicksal des Menschen der Mensch ist, kann es da nicht auch von Menschen durchbrochen werden?

Lazars Stück hat das Zeug, ein moderner Klassiker zu werden. „Der blinde Passagier“ ist dramatisch so geschickt gebaut, gedanklich so reich und ethisch so aufrüttelnd, dass man es tatsächlich tragisch nennen muss, dass dieser Text seit 1938 noch nie auf einer Theaterbühne gespielt wurde. Die großartige Inszenierung von Linnenbaum, in der am Ende das Schiff im Nebel der bis heute existierenden moralischen Unentschiedenheit untergeht, dürfte das literarische Comeback von Maria Lazar weiter befeuern.

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