Ein Kind läuft in den Wald - und kommt nicht wieder heraus. Fünfzehn Jahre später wiederholt sich die Geschichte. In der Familie Van Laar verschwindet nach Sohn Bear nun auch Tochter Barbara. Die beiden Fälle müssen zwangsläufig etwas miteinander zu tun haben - oder etwa doch nicht?
Was muss man eigentlich machen, um auf der Leseliste eines Präsidenten zu landen? Im Fall von Barack Obama scheint es, als müsse ein Roman sich zumindest eines amerikanischen Themas annehmen und außerdem eine ordentliche Portion wilde Natur enthalten. Schließlich hat Obama schon einige Bücher mit dieser Formel auf die Bestsellerlisten katapultiert, nachdem er sie in seinen jährlichen Lesehighlights vorgestellt hatte. Ein weiteres Buch, das es von seiner Liste zum Bestseller geschafft hat und die amerikanische Wildnis mit viel zwischenmenschlichem Drama verbindet, ist "Der Gott des Waldes" von Liz Moore.
1975 lebt die Familie Van Laar auf einem malerischen Anwesen am See direkt am Fuße der Adirondacks, einem bewaldeten Gebirgszug im Bundesstaat New York. Von dort aus beherrschen die Van Laars die Stadt, die eigenen Kinder und das eigens am See errichtete Feriencamp, das einst ein sportbessessener Vorfahre gegründet hat. Eigentlich genießt die Familie nur ihren Reichtum und die genre- und klassetypischen Verfehlungen, bis zum Verschwinden des erstgeborenen Sohn Bear. Mit nur acht Jahren lief der Junge in den Wald und wurde nie wieder gesehen.
Jetzt, fünfzehn Jahre später, wird die Familie abermals Opfer einer Tragödie. Bears Schwester, die zwei Jahre nach seinem Verschwinden geborene Barbara, liegt morgens nicht mehr in ihrem Bett im Ferienlager. Die Kinder im Sommercamp sind sich sicher, es ist der Serienmörder Jakob Sluiter, der zurückgekehrt ist. Kriminalpolizistin Judyta hat eher den herumkommandierenden Großvater im Verdacht, der behauptet Barbara sei weggelaufen. Schon bei den Ermittlungen um Bear war er alles andere als hilfreich. Und dann ist da ja noch die trauernde Mutter Alice, die, wenn sie nur kurz aus ihrem Tablettendunst auftauchen könnte, sich so gerne an ein wichtiges Detail erinnern würde, das der Schlüssel zu Barbaras und Bears Verschwinden sein könnte.
Nicht nur für Krimifans - kein klassischer Thriller
Dabei ist "Der Gott des Waldes" kein Krimi im eigentlichen Sinne, die Geschichte wird auf mehreren Zeitebenen erzählt und kommt ohne zentrale Ermittlerfigur aus. Die Suche nach Barbara und ihrem Bruder Bear ist nur eine von mehreren Perspektiven, aus denen die Welt der Van Laars und des Sommercamps im Naturreservat beleuchtet wird. Auch kommt die Geschichte ohne laute Schockmomente, Blut und dramatische Gewalt aus. Der britische "Guardian" nannte den Roman deshalb zu Recht einen "literarischen Thriller", in dem die unwirtliche Kulisse der bewaldeten Berge und die dominante Familie an Bedrohlichkeit wetteifern.
Man könnte die Adirondacks, das über allem thronende bewaldete Gebirge, als Protagonisten bezeichnen. Oder auch die zwölfjährige Tracy, die in dieser Nacht ihre einzige Freundin verliert, aber genauso gut auch Alice Van Laar oder die Betreuerin Louise, deren zu Gewalt neigender Freund in jener Nacht auch im Wald herumspukte. Den Kindern im Feriencamp wird jedenfalls immer wieder eingeschärft, sich nicht in der Wildnis zu verirren, im Zweifelsfalle zu schreien und auf keinen Fall allein im See schwimmen zu gehen. Zu wild und unwirtlich ist die Gegend, zu schnell wird es dunkel, zu leicht ist es, sich im dichten Unterholz zu verlieren.
Den Campbetreuern macht das scheinbar weniger Angst. Sie schleichen sich zu jeder Tag- und Nachtzeit davon, um Gras zu rauchen und Liebschaften zu frönen. Und auch Barbara Van Laar, das verschwundene Mädchen, hat sich schließlich nachts davongeschlichen, um sich mit einer mysteriösen Person zu treffen.
Die Natur als Gewalt
Liz Moore entwirft hier eine gelungene Gegenerzählung zum Mythos der 1970er Jahre, in denen angeblich alles besser und leichter war, in der Kinder frei durch den Wald streifen durften, während die Erwachsenen fette Parties schmissen. Im "Gott des Waldes" ist die Natur eine Gewalt und auch wenn lange nicht klar ist, welche Rolle sie im Verschwinden der Kinder der Van Laars spielt, erschwert sie jedoch zumindest die Aufklärung beträchtlich.
Wer manchmal Schwierigkeiten mit deutschen Übersetzungen hat und lieber auf Englisch liest, kommt bei "Der Gott des Waldes" trotzdem auf seine Kosten. Cornelius Hartz hat den fast 600 Seiten langen Roman liebevoll ins Deutsche übertragen. Dass man bei drei verschiedenen Zeitebenen, einem ganzen Ensemble von Figuren und mehreren Generationen von Männern namens Peter Van Laar nicht den Überblick verliert, ist kein leichtes Unterfangen. Doch Hartz fängt mit seiner klaren und unaufgeregten Sprache die Gedanken der zwölfjährigen Tracy genauso ein, wie die des sechzigjährigen Rangers Carl.
Das macht den Roman auch in der Übersetzung zu einem wahren Genuss. Liz Moore belohnt das Durchhalten am Ende mit einer gelungenen Auflösung, auch wenn vielleicht nicht jeder Handlungsstrang gleich aufgeht. Auf jeden Fall ist Moore eine Mischung gelungen, die garantiert noch mehr Lesende begeistert, ob sie jetzt Präsidenten sind oder nicht.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.