Im zweiten Buch seiner „Äneis“ lässt der römische Dichter Vergil die libysche Königin Dido ihren Schutzbefohlenen Äneas bitten, doch einmal den Untergang Trojas, dem er, der letzte König der Stadt, entkam, nachzuerzählen. Die Antwort auf diese Aufforderung gehört zu den klassischen Zitaten des Altertums: „Infandum, regina, jubes renovare dolorem?“ – Musst du, Königin, mir gebieten, den Schmerz zu erneuern? Offensichtlich hätte Äneas es vorgezogen, die Erinnerung an das Grauen weiter in seiner Brust zu verschließen, statt sie in der Erzählung als schmerzhafte Erinnerung wachzurufen.
Den Schmerz zu erneuern, haben Millionen von Flüchtlingen in der Geschichte wie eine Wiederauflage des Schreckens zu vermeiden versucht, getrieben aus eigener Entscheidung, das Erlebte dem Vergessen anheimzugeben, um in der Gegenwart neuen Halt zu finden. Oft reagierte eine schweigende Umwelt aus Rücksicht auf den erlittenen Schmerz, indem sie eine Wiederbegegnung mit der Vergangenheit ins Unerwünschte abdrängte.
Doch Jochen Buchsteiner, Autor des Buches „Wir Ostpreußen“, hat sich einem leidenschaftlichen Kurs des Nacherlebens unterworfen. Er will eine Wissenslücke in seinem eigenen Leben schließen. Es half, dass ihm seine Großmutter kurz vor ihrem 90. Geburtstag eine grüne „Kladde“ übergab, in der sie auf über sechzig Seiten Gedanken und Erinnerungen aus ostpreußischen Familientagen niedergeschrieben hatte, angefangen mit dem Kriegsbeginn. Nie hatte sie darüber gesprochen – jetzt wird das Kompendium der erzählerische Aufhänger für Buchsteiners Buch.
Buchsteiner verlängert es um den Bericht über das Erleben der Flüchtlinge im Westen Deutschlands. Else Buchsteiner war eine Frau, die über sich hinauswuchs, als sie vor Ankunft der Roten Armee den Flüchtlingstreck der circa achtzig Personen organisierte, für die sie als Besitzerin der beiden Familiengüter in Götzlack und Kukehnen südlich von Königsberg verantwortlich war. Ihr Mann war 1942 im Krieg gefallen.
Eine unvorstellbare Prüfung, für die es keine Lernstunden gab: Die Schrecken auf dem Weg waren der Prüfungsstoff, an dem die einen sich bewährten, die anderen zugrunde gingen. Buchsteiners Großmutter hatte Glück – sie entkam mit ihrem Leben.
Milderte das Nacherleben der Ereignisse aus dem Januar 1945 für den Enkel den Schmerz über den Verlust der Heimat? Oder will der Autor als spätgeborener Erbe aus ostpreußischem Stamm, geboren 1965, die Reihe der Bücher über den literarisch durchaus ausgeleuchteten deutschen Osten mit einem illustren Spätwerk bereichern?
Die Frage geht an diesem Buch vorbei. Buchsteiner, heute für die „FAS“ in Berlin, ist erfahren im Umgang mit den Interessen potenzieller Leser. Seine Sorge ist die totale Vergesslichkeit der Deutschen im Umgang mit ihren nationalen Wurzeln und die Unkenntnis, welcher wichtiger Teil der deutschen Identität von dem Kulturraum des deutschen Ostens geprägt wurde.
Um das zu begreifen und fassbar zu machen, nimmt er mehrere Anläufe auf Einzelaspekte der Geschichte. Immer wieder profitiert davon Königsberg, aber auch Flecken wie etwa Friedland, die er an passender Stelle einflicht, als Ausflug in die deutsch-russischen Beziehungen.
In solchen Passagen spürt der Leser, wie gewissenhaft Buchsteiner den wechselnden Konturen des nicht immer deutschen Ostens Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte. Keine Parteilichkeit schmälert sein Urteil über das Vergangene. Auch kann „dem Nachspüren über die nationale Tragödie heute nicht mehr unterstellt werden, deutsche Untaten relativieren zu wollen“, wie er kommentiert. Er will der Versuchung widerstehen, den deutschen Osten als eine glorreiche Heldensage auferstehen zu lassen.
Die historische Wahrheit ließe solche Ausschließlichkeit nicht zu, Buchsteiners Bibliografie enthält reichlich verfügbares Material; man denke etwa an die Bücher Gräfin Dönhoffs, der unbestechlichen Zeugin des Ostens, die der Erzählung über das Einst längst die nötige Glaubwürdigkeit verliehen haben.
Was aber macht dann Buchsteiners „Wir Ostpreußen“ zu dem spannenden Bestseller, der er ist, wo so viele Einzelheiten des Sujets, in früheren Büchern ausgebreitet, 75 Jahre nach dem Ende der erzählbaren Geschichte des deutschen Ostens längst gleichsam „aktenkundig“ geworden sind? Nun, er entwirft das ganze Panorama einer langen Geschichte, die dann binnen weniger Jahre ihren letzten Höhepunkt im Moment ihres Scheiterns erlebte. Davor regierte Preußen den historischen Ablauf; Buchsteiner erzählt ihn wie ein Geschichtsdozent. Da bekommt auch das Thema „Vertreibung“ seinen ihm gebührenden Platz.
Das Buchkonzept lebt von der Vielfalt der Eigenschaften, die Buchsteiner als Autor mitbringt: Als Journalist hat er ein Auge für die kleinsten menschlichen Details, die beispielsweise das Drama der Flucht, oft im Tagebuch-Stakkato berichtet, wie einen allmählich aufsteigenden Vulkanausbruch begleiten. Als Historiker möchte er seine Neugier über die ostpreußische im Kontext der europäischen Geschichte befriedigen. Als Essayist schließlich kann er dem Teil der Katastrophe nicht ausweichen, die auf das Konto des Nationalsozialismus als Vernichter Ostpreußens entfallen.
Das Grauen eines immer vom Tode begleiteten Flüchtlingsdramas zitiert Buchsteiner aus dem Bericht einer Abiturientin des Gymnasiums in Lyck, die sich dem Treck der Götzlacker angeschlossen hatte. Die apokalyptischen Einzelheiten in Dörfern auf der Nehrung kamen nicht in die Kladde der Großmutter, jedoch in Buchsteiners Buch.
Buchsteiner erzählt eine Geschichte in Kontrasten, die keine Kontinuität entstehen ließen. 1929 hat sich Thomas Mann in Nidden auf der Kurischen Nehrung niedergelassen, zu ruhiger Arbeit. In einem Zeitungsinterview monierte er „die anhaltenden Vorurteile der Deutschen gegenüber der Provinz, eine Neigung zum Sichabwenden, zum kulturellen Fallenlassen.“ Dabei sei Ostpreußen „so anders, so einmalig in seiner Art. Vielleicht, dass unbewusst in diesen Herzen und Hirnen ein fremder großer Mythos lebt.“ Prophetische, unheimliche Worte.
Bald danach, die Nazis haben nirgendwo so viel Euphorie entfacht wie in Ostpreußen, fragt Thomas Mann im August 1932 im „Berliner Tageblatt“, ob „die Bewunderer der seelenvollen Bewegung, die sich Nationalsozialismus nennt, endlich die Augen öffnen über die wahre Natur dieser Volkskrankheit, dieses Mischmaschs aus Hysterie und vermuffter Romantik, dessen Megaphon-Deutschland die Karikatur und Verpöbelung aller Deutschen ist?“
1929 bis 1932: Nur drei Jahre sind vonnöten, um den Umsturz aller Werte, auch in Ostpreußen, diabolisch zu feiern. Der Untergang Ostpreußens nimmt seinen Lauf. Buchsteiner nennt sich in seinem Buch einen „Heimwehtouristen“. Aber er ist natürlich viel mehr: Der Glücksfall eines Autors, der mit einer Liebeserklärung an seine Heimat Geschichte aufleben lässt wie ein Kulturdenkmal, „aere perennius“ – dauerhafter als Erz (Horaz).
Jochen Buchsteiner. Wir Ostpreußen. Eine ganz gewöhnliche deutsche Familiengeschichte, dtv, 288 Seiten, 26 Euro.
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