Dramatischer kann eine Freundschaft nicht beginnen: Ein Teenager will sich von einer Eisenbahnbrücke in den Fluss stürzen und wird von einer wäscheaufhängenden Anwohnerin im letzten Moment davon abgehalten. Grazina heißt sie, einst vor dem litauischen Krieg in die USA geflohen, in ein Haus am Fluss, das sie, anders als ihre Nachbarn, trotz Schadstoffbelastung nie verlassen hat. Schon am ersten Abend geht Hai, der lebensmüde Junge, auf ihr Zwischenmietangebot ein. Als Demenzkranke braucht Grazina Unterstützung beim Pillenmanagement ebenso wie beim Kauf von Plastikschalensteaks, wodurch Hai seinen trüben Gedanken entkommt.
Zärtlich ist ihre Beziehung, wenn auch sonderbar. Über sechzig Jahre Altersunterschied spielen kaum eine Rolle. „Der Kaiser der Freude“ heißt dieser berührende Roman des US-Schriftstellers Ocean Vuong. Von den vielen beim Lesen aufpoppenden Fragen ist eine, wieso sich so selten Freundschaften über mehrere Generationen hinweg ergeben. So kam eine Studie des Schweizer Gottlieb Duttweiler Instituts zu dem Schluss, dass nur sechs Prozent einen oder eine beste Freundin mit mindestens zwanzig Jahren Altersunterschied haben.
Ein naheliegender Grund sind fehlende Gelegenheiten. Wo, wenn nicht gerade an einer sturmzitternden Eisenbahnbrücke, sollten sich Alt und Jung schon begegnen? Im beruflichen Kontext nehmen manchmal erfahrenere Kollegen den Nachwuchs unter ihre sogenannten Fittiche, wobei der Gewinn ein eher einseitiger ist und das vorhandene Machtgefälle problematisch sein kann. Der Psychotherapeut Wolfgang Krüger, Autor des Buchs „Freundschaft: Beginnen, verbessern, gestalten“ stellt fest: „Wenn Sie in der Schule sind oder studieren, sind neunzig Prozent der Kontakte, die Sie haben, Ihre Generation. Wenn Sie Anfang dreißig sind und ein Kind haben, wollen Sie sich darüber unterhalten, was die beste Babynahrung ist und wie man das Kind nachts zur Ruhe bekommt. Insofern ist es klar, dass wir im Laufe des Lebens im Wesentlichen halbwegs gleichaltrige Freunde haben.“
Besonders unwahrscheinlich ist das Zustandekommen transgenerationaler Freundschaften für Dreißig- bis Vierzigjährige, eine Zeit, die für viele mit einer Mehrfachbelastung von Kindern, Karriere und Partnerschaft einhergeht und es bereits schwer macht, bestehende Freundschaften zu pflegen. Ältere Menschen wiederum haben zwar weniger Freundschaften als Jüngere, sind mit diesen allerdings zufriedener.
Scheu und Vorurteile
Aussichtsreicher ist das Überwinden des Altersunterschieds in ländlichen Regionen, wo Feste gefeiert werden, zu denen nicht nur eine bestimmte Alterskohorte kommt. Ebenso gehören Vereine mit gemischter Mitgliedsstruktur zum Alltag, von Musik über Sport bis hin zu Brettspiel. Während ein Tennismatch zwischen Junioren und Senioren eher unwahrscheinlich ist, spielt körperliche Fitness beim Schach keine Rolle. Zuletzt sind Nachbarn in der sogenannten Provinz mehr als Schemen im Treppenhaus, springt eine Witwe mal als Babysitter ein, erfolgt eine Einladung zum Kaffeekränzchen beim alleinstehenden Rentner.
Anders in der Stadt, wo ganze Bezirke nach Geburtsjahren gegliedert zu sein scheinen. In Berlin-Friedrichshain etwa sieht man kaum ältere Menschen auf der Straße. Hat sie die Gentrifizierung an den Stadtrand gedrängt? Während der Corona-Pandemie riefen Initiativen dazu auf, für Hilfsbedürftige, das waren vor allem ältere Bürger, einkaufen zu gehen. Auch in gesunden Zeiten – wobei davon aktuell keine Rede sein kann – wäre das begrüßenswert, ebenso mehr jener Mehrgenerationenhäuser, in denen Studierende Tür an Tür mit Kreuzworträtsellösern leben.
Ein weiterer Hinderungsgrund dürften Scheu und Vorurteile sein. Zu groß scheint die Lebensrealität des jeweils anderen. Angesichts der Hypertechnologisierung ist schon der Sprung von den Millennials zur mit dem Internet aufgewachsenen Gen Z gewaltig. Was, könnte man denken, sollen Letztere mit einem Seniorenhandybesitzer anfangen? Dabei würden beide Seiten von einem unbekannten Blick auf die Welt profitieren. Was passiert, wenn wir immer nur in unserer eigenen Blase umherschweben, beweist die derzeitige politische Spaltung und Zunahme von Extremmeinungen. Ganz abgesehen davon, dass es juvenile Social-Media-Verweigerer ebenso gibt wie rüstige Instagrammerinnen.
Und jemanden wie den in seinem neunzigsten Lebensjahrzehnt stehenden Herrn L., den ich alle paar Wochen in einem Wiener Kaffeehaus treffe. Wir kennen uns aus meiner Studienzeit, neben seiner Burgtheaterleitungsfunktion gab er damals Dramaturgieseminare. Alter Professor, junge Studentin, das klingt nach Red Flag, so allerdings war es nie. Stattdessen tauschen wir uns über sehenswerte Inszenierungen, das Pendeln zwischen mehreren Wohnorten und vergangene und bevorstehende Reisen aus. Immer wieder sorgt Herr L. für Überraschungen. Liest das FAZ-Feuilleton nur in gedruckter Form, nutzt sein in einer selbst gebastelten Luftpolsterfolienhülle verwahrtes iPhone aber auch begeistert für Onlinerecherche. Schreibt bei WhatsApp immer sofort zurück, mit „Herzlich, Ihr Herr L.“ als Grußformel. Kommt mit dem E-Roller zum Treffen und süßt sein Soda-Zitron mit Extrazucker. Hat es kürzlich mal mit Onlinedating versucht.
Überhaupt scheint meine Wahlheimat Wien ein guter Ort für transgenerationalen Austausch zu sein. Immer mal wieder kommt man dort mit älteren Menschen – sie tummeln sich auch in der Innenstadt – ins Gespräch. Das Wetter! Die lange Supermarktschlange! Schon kurz nach meinem Einzug freundete ich mich mit einer pensionierten Nachbarin an. M. ist professionelle Bratschistin, ab und an wehen Mozartsonaten durchs Treppenhaus. In ihrer Freizeit verfasst sie historische Romane, für deren Recherche sie sich wochenlang in venezianischen oder römischen Airbnbs einquartiert. Auch M. ist internetaffin, hat ihre Regiearbeiten bei YouTube hochgeladen und achtet bei ihren E-Mails penibler auf Datenschutz als ich. Auch sonst empfinde ich ihre Einladungen, bei denen es Florentiner Mandelkekse aus dem 16. Jahrhundert gibt, als sehr bereichernd. In der Abwesenheit der anderen gießen wir einander die Blumen.
Die vier Vorteile
Welche weiteren Vorteile bringt so eine Freundschaft? Erstens einen Perspektivwechsel, und zwar für beide Seiten. Während der ältere Part mit Lebenserfahrung und bestenfalls Weisheit punktet, ist der jüngere näher am Zeitgeist dran. Zweitens Entspannungspotenzial. Anders als bei Gleichaltrigen bietet der age gap wenig bis keinen Anlass für Konkurrenz. Frauen sind nicht an denselben Männern interessiert, Kollegen nicht an denselben Stellenausschreibungen. Drittens kann die ältere der jüngeren Person als Vorbild dienen, so wie im Fall der Sängerinnen Adele (Jahrgang 1988) und ihrem Idol Céline Dion (Jahrgang 1968), oder Elton John, der dem fünfundzwanzig Jahre jüngeren Eminem half, von seiner Drogensucht loszukommen. Natürlich können auch Gleichaltrige eine Vorbildfunktion erfüllen, die schiere Menge Lebenserfahrung bietet allerdings mehr Anknüpfungspunkte. Und viertens kann man auch einfach Spaß haben, wie im Fall des Rappers Snoop Dogg und der Kochshowikone Martha Stewart, dreißig Jahre Altersdifferenz, die sich 2008 beim Kartoffelpüreekochen kennenlernten. Seither gehen sie zusammen reiten oder lassen sich beim gemeinsamen Browniebacken filmen. Stewart weiß, was mit den Eigelben zu tun ist: Whisk those babys in!
Genuss spielt auch bei meiner Freundschaft mit B. eine Rolle. Kennengelernt haben wir uns bei einem Pressedinner, auch B. ist als freie Reisejournalistin in der Welt unterwegs, wenngleich viel weniger als früher, schließlich ist sie schon über siebzig. Ab und an schicken wir uns E-Mail-Grüße oder Postkarten aus verschiedenen Ecken der Welt und vereinbaren wenigstens zweimal im Jahr ein analoges Treffen. Meist lädt B. in ihre bezaubernde Charlottenburger Schachbrettbodenküche ein. Es gibt Tee aus Porzellantassen, Zitronenbaiser und Tomatentarte, denn B. ist eine fantastische Bäckerin. Niemals gehen uns die Gesprächsthemen aus. Von all meinen älteren Freunden ist sie die inspirierendste. Eine alleinstehende, kinderlose, dabei keineswegs einsame Dame, mit riesigem Bekanntenkreis und unstillbarem Hunger auf die Welt, sei es in Form von Reisen, Büchern, Filmen oder der Suche nach dem perfekten Bienenstichrezept.
Auch im eingangs erwähnten „Der Kaiser der Freude“ gibt es eine Kuchenszene. Gleich beim Kennenlernen notiert Grazina Hais Geburtstag in ihrem Wandkalender. Viele Wochen später serviert sie ihm in ihrer schummrigen Küche an besagtem Tag einen Nutellakuchen: „‘O Mann, ist der schön.‘ Seine Stimme war belegt und zitterte. ‚Vielen, vielen Dank.‘ Er streckte die Arme aus und zog sie an sich, und sie hielten einander eine Zeit lang umschlungen, dann schaltete er das Radio wieder ein, und der letzte Satz des Konzerts brauste durch das knarrende Haus und blendete den breiten schwarzen Fluss draußen aus – und Hai war zwanzig.“ Grazina ist zweiundachtzig. Vuongs Roman ist wenigstens teilweise autobiografisch gefärbt. So wie sein Protagonist emigrierte auch der Verfasser von Vietnam in die USA, jobbte in einem Fast-Food-Restaurant, überwand seine Medikamentenabhängigkeit, wurde von einer älteren Dame aus der Wohnsitzlosigkeit gerettet – und verliebte sich in deren Enkel, mit dem er bis heute zusammen ist.
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