A m Anfang dieser Operninszenierung schluckt man erst einmal heftig. Ein älterer Mann wird beim Anhören einer noch älteren Platte von Mozarts „Don Giovanni“ von einem Herzinfarkt niedergestreckt. So ähnlich ist es im richtigen Leben Anfang Mai Pierre Audi ergangen, dem Intendanten des Festivals d’Aix-en-Provence. Er starb während eines Arbeitsbesuchs in Peking im Schlaf. Ein Kreuz steht jetzt deshalb überall in den Programmheften des bedeutsamen Opernfestes hinter seinem Namen.
Der malade Mann auf der Bühne des Grand Théâtre de la Provence aber lebt zunächst weiter. Die folgenden dreieinhalb Stunden sind eine Nahtoderfahrung, bei der seine Identität – er ist der Komtur, Donna Annas von Giovanni ermordeter Vater – mit der Titelfigur verschmilzt.
Hier nämlich inszeniert der aufsteigende britische Theaterregisseur Robert Icke erstmals Oper. Icke ist bekannt für seine radikalen Klassiker-Neudeutungen, hat bereits in Stuttgart und am Burgtheater inszeniert, nächste Saison arbeitet er am Münchner Residenztheater. Nun allerdings kommt einem sehr vieles von seinen radikalen Neuinterpretationsversatzstücken bekannt aus anderen „Don Giovanni“-Inszenierungen und abgegriffen vor, auch wenn es für Icke vielleicht frisch erscheint.
Eine während der ganzen letzten Nacht sterbenden Verführer gab es schon in Claus Guths von Salzburg weit gereister Produktion. Ebenso stellte schon Martin Kušej in seiner weitgereisten Version Frauen permanent als Objekte, Schaufensterpuppen oder Miss-Wahl-Statistinnen aus.
Mit alles nur wiederholenden Videobildern ist die internationale Operngemeinde schon längst ebenso hinreichend versorgt wie mit Doppelgängern, einem Verführer als mieses MeToo-Würstchen und sich durch vermutlich missbrauchte Kinder spiegelnden Protagonistinnen. Und eine Inszenierungskernidee aus nur einem Libretto-Satz zu entwickeln, das konnte man erst vergangene Woche im freilich gelungenen neuen Münchner „Don Giovanni“ erleben.
Seit 1948 nimmt „Don Giovanni“ eine bedeutende Rolle für die ein Jahr zuvor gegründeten Festspiele in Aix ein. Nach dem inhaltlichen Neustart von 1998 unter Stéphane Lissner, in dessen Stil auch die Intendanten Bernard Foccroulle und Pierre Audi die Moderne suchend fortfuhren, wird Mozarts Oper nun zum vierten Mal neu inszeniert. Der Auftakt dieser Reihe erfolgte 1998 mit Peter Brooks Version. Foccroulle hat jetzt neuerlich interimistisch die verwaiste Intendanz übernommen. So soll Kontinuität symbolisiert werden – von der sich nun Robert Icke absetzen will, was in einem nüchternen, akustisch vagen Bühnenbild aus Metalltreppen, Stegen und von Vorhängen formierten Zimmern nicht wirklich funktioniert.
Und auch Simon Rattle, hier regelmäßiger Gast, der diesmal mit dem prächtig aufspielenden Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks noch von Audi für eine dreijährige Residenz eingeladen wurde, will irgendwie anders, aber trotzdem aufmüpfig sein. Was sich in kahlen, sehr trockenen Rezitativen und erratischen, immer wieder stockenden Tempi manifestiert. Einzelne Arien sind zwar wunderbar ausziseliert, aber ein wirklich dramatischer Klangfluss mag sich erst in Richtung Höllenfahrt einstellen.
Immerhin gibt es ein fein abgestimmtes Mozart-Ensemble zu hören. Andrè Schuen singt den am Ende abgefuckten, Blut spuckenden Don Giovanni elegant kraftvoll mit immer noch schönen Kastanienfarben, aber auch mit aufwühlend dunklen Vokalschattierungen. Golda Schultz ist eine tragödienhaft auffahrende, aber auch koloratur-agile Donna Anna. Der Diener Leporello, hier ein Pfleger oder Arzt eines Luxuskrankenhauses, erweist sich mit der kantigen Vokalfülle von Krzysztof Bączyk bereits als Anwärter auf die Titelrolle. Auch Amitai Pati ist ein sehr guter Ottavio, während die Elvira von Rattle-Gattin Magdalena Kožená schon rollendeckend matronenhafte Züge trägt.
In Aix gehört zum Konzept die Pflege der Moderne wie des Barockrepertoires. Es gibt Uraufführungen wie Befragungen selten gewordener Stücke. Benjamin Brittens Männeroper „Billy Budd“ hatte Pierre Audi eigentlich integral geplant, ein durch die Pandemie vergrößertes Budget-Loch machte ihm einen harten Strich durchs Konzept. Doch haben auch reduzierte Experimentalanordnungen bekannter Werke des Kanons hier Tradition, besonders im intimen, einstigen Stadttheater Jeu de Paume.
Sparzwang kann kreativ machen
Hier tritt also nun der fast schon als inoffizieller Queer-Beauftragter des Festivals auftretende Regisseur Ted Huffman mit einer gar nicht so radikal wie angekündigten schwulen Eindampfung der aus Eifersucht, Bösartigkeit und verbotenen Liebe sich zusammenbrauenden Matrosentragödie auf einem englischen Kriegsschiff Ende des 18. Jahrhunderts an. Er hat eine halbe Stunde Spielzeit gestrichen. Die Bühne mit ein paar Schiffspodesten und Tischen für Requisiten, Perücken und Kleider zum Wechsel für die nur noch sechs Spieler atmet Probenatmosphäre. Viel queerer als sonst ist die diesmal bis auf einen nächtlichen Kuss zwischen Billy und einem Mitmatrosen wenig explizite, aber anrührende Geschichte, die die schwulen Autoren Herman Melville, E. M. Forster und Benjamin Britten nie wirklich offenlegen konnten, auch nicht.
Aber sie packt sofort. Weil Ted Huffman einfach, aber mitreißend seine unbedingt glaubwürdigen, in unterschiedliche Rollen schlüpfenden Figuren führt – unter denen der muskulöse Billy von Ian Rucker, der ältere Joshua Bloom als sinistrer Intrigant und Zahlmeister Claggart, vor allem aber der mitleidende und doch nicht einschreitende Captain Vere von Christopher Sokolowski herausragen.
Sehr besonders in ihren schwebenden, den leeren Ozean nachfühlen lassenden E-Klavier-Einfärbungen mit Perkussionsuntermalung für nur vier Musiker – darunter der engagierte Dirigent Finnegan Downie Dear – ist auch die Neufassung der auf Chor und Marine-Genre-Bildchen verzichtenden, puren, ja grausam zuspitzenden Orchestrierung durch Oliver Leight. Sparzwang kann also auch äußerst kreative Ergebnisse haben.
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