Nur wenige Stunden nach seiner Ankündigung, im Dezember ein Comeback-Konzert spielen zu wollen, hat Xavier Naidoo die größte Veranstaltungshalle Deutschlands, die Kölner Lanxess-Arena, ausverkauft, nicht bloß einmal, nein, gleich zwei Konzerte an zwei aufeinanderfolgenden Tagen sind ausgebucht. 30.000 Menschen wollen kommen. Das ist ein Statement. Und es wäre vielleicht vor zehn oder vor zwanzig Jahren nicht weiter ungewöhnlich gewesen.

Xavier Naidoo gilt immerhin als einer der größten und erfolgreichsten, deutschsprachigen Popstars der Gegenwart, mehr als sieben Millionen verkaufte Tonträger, 14 Top-Ten-Singles und einige Hymnen, man denke nur an „Dieser Weg“, den Song, nein, den Soundtrack zum Sommermärchen der deutschen Fußball-Weltmeisterschaft.

Aber wir haben nicht mehr 2006 und auch nicht mehr 2019, wo Naidoo noch prominentes Mitglied einer quotenstarken TV-Castingshow war. Es ist 2025, und die Karriere von Naidoo wird heutzutage mindestens genauso sehr mit seinen großen Hits assoziiert wie mit seinen irren Weltanschauungen, die er dem Land nach und nach offenbarte.

Antisemitismus und Reichsbürger-Ideologie

Seine anfänglichen fundamental-religiösen Einlassungen („Gott will nicht, dass ich Autogramme gebe“), seine ab 2009 zunehmend wirren, antisemitisch konnotierten politischen Lyrics („Baron Totschild gibt den Ton an, und er scheißt auf euch Gockel. Der Schmock ist’n Fuchs und ihr seid nur Trottel“) über Reichsbürger-Ideologien bis hin zu einem öffentlich zelebrierten Nervenzusammenbruch, weil er der festen Überzeugung war, bösartige und mächtige elitäre Zirkel würden kleine Kinder in unterirdischen Gängen quälen, damit sie körpereigenes Adrenochrom ausschütteten, womit sich die böse Elite dann wiederum ewig jung hielte.

Mit der Corona-Pandemie fielen alle Grenzen: Naidoo leugnete den Holocaust („eine gelungene historische Fiktion“) und bewarb antisemitische Hetzschriften. Da war Naidoo dann ganz tief drin im Kaninchenbau der Verschwörungstheorien und fernab auch seiner ganz eigenen Realität. Schrieb er zu Beginn seiner Karriere noch einen viel beachteten Song in Gedenken an den durch Neonazis totgeprügelten Alberto Adriano, ist einer seiner letzten Songs nun ein Feature mit „Kategorie C“-Sänger Hannes Ostendorf, der wiederum wegen eines Brandanschlags auf ein Flüchtlingsheim im Jahr 1991 verurteilt wurde.

Doch 2022 passierte etwas. Was genau, das weiß man nicht, jedenfalls zog sich Naidoo nach und nach aus seinen neuen Netzwerken zurück, postete keine irren Telegram-Beiträge mehr und meldete sich im April 2022 schließlich mit einem Videostatement zu Wort, in dem er offenlegte, dass bei ihm ein Nachdenk-Prozess eingesetzt habe, dass er sich in seinen Verschwörungstheorien verrannt und vieles von dem, was er gesagt hätte, nun bedauern würde. Was genau? Unklar.

Die mediale Berichterstattung wurde mit hämischen Kommentaren flankiert, dass ein solches Statement doch nur ein Versuch wäre, zurück auf die großen Bühnen und in den Mainstream zu finden, bestimmt, mutmaßte man damals, würde sehr bald ein neues Album kommen, alles nur PR, alles nur Show. Doch das erwartete Comeback-Album kam nicht. Drei Jahre lang blieb es nach dem Statement ruhig um Naidoo. Bis jetzt.

Der Fall Naidoo, eine gesamtgesellschaftliche Frage?

Naidoo kündigte Anfang der Woche sein Bühnen-Comeback an und die eigentliche Debatte setzt jetzt ein. Der Verein „Werteinitiative“, der sich auf seiner Website als „jüdische NGO“ bezeichnet, fordert eine Absage der beiden Konzerte. Zahlreiche kritische Stimmen werden im Netz laut, die dasselbe fordern.

Doch es geht hier nicht bloß um Xavier Naidoo, der Fall und der Umgang mit ihm stehen für etwas Größeres, sie stehen für die gesamtgesellschaftliche Frage, wie wir mit Menschen umgehen wollen, die sich in verschwörungsideologischen oder, noch allgemeiner, in radikalen Gedankenwelten verlaufen haben. Eine Frage, die besonders in einer zutiefst gespaltenen und polarisierten Post-Corona-Gesellschaft von Relevanz ist.

Kann es ein Zurück in eine gesellschaftliche Mitte geben, nachdem man sich öffentlich so verrannt hat, wie Naidoo es getan hat? Und wenn ja, wie deutlich muss die Distanzierung von den eigenen Aussagen sein? Naidoo hat sich von seiner Vergangenheit distanziert. Für viele nicht deutlich, nicht ausführlich genug, gemessen an der Reichweite und dem Einfluss, den er hatte und ganz offensichtlich noch immer hat. Ja, sein Statement war ein Anfang, aber eben auch nur das. Naidoo hat Schaden angerichtet. Lippenbekenntnisse sind nicht ausreichend, um das wiedergutzumachen.

Und dennoch muss auch klar sein, dass die offene Hand einer Gesellschaft ausgestreckt bleiben sollte. Es muss immer die Gelegenheit geben, zurück in die Mitte zu finden, Deradikalisierung kann nur dann funktionieren, wenn ihr der Gedanke einer Re-Sozialisierung zugrunde liegt.

Naidoo muss jetzt sprechen, statt bloß zu singen

Es gibt zahlreiche Aussteiger aus dem Rechts- und dem Linksextremismus, aus dem radikalen Islam, Menschen, die es geschafft haben, sich selbst und ihre kruden Weltbilder infrage zu stellen und umzudenken, es gibt sogar zahlreiche Aussteiger, die heute wertvolle Vorkämpfer für demokratische Werte sind. Weil sie andere potenzielle Aussteiger durch die Authentizität ihrer Lebensgeschichte besser ansprechen können, als Pädagogen dazu jemals in der Lage wären.

Xavier Naidoo könnte so eine Figur werden. Wenn er sich dazu entschließt zu reden, seine Beweggründe öffentlich zu machen. Das muss man von ihm verlangen. Diesen Weg muss er gehen, bevor er auf die Bühne zurückkehrt.

Und dieser Weg, um in seiner eigenen Metaphorik zu bleiben, wird kein leichter sein. Menschen, die sich in radikalen Szenen bewegt haben, lassen nicht einfach ein paar krude Gedanken hinter sich, sie geben ihr Weltbild auf, das sich über Jahre, manchmal Jahrzehnte gefestigt hat. Das Abstreifen dieses Weltbildes ist nicht bloß eine Abkehr von alten Glaubenssätzen, es ist für viele Menschen ein Verlust ihrer Identität. Deradikalisierung ist kein Sprint, sondern ein Marathon, ein Prozess, der Zeit verlangt.

Sind drei Jahre dafür genug? Vielleicht. Wir werden es nur erfahren, wenn Naidoo spricht, statt bloß zu singen. Wenn er sich ausführlicher zu den gedanklichen Irrwegen äußert, auf denen er sich verlaufen hat, indem er auch das tut, was er in der Vergangenheit im Negativen getan hat: Seine Reichweite zu nutzen, um aufzuklären – und diesmal wirklich. Wenn er dazu bereit ist, wenn er sich glaubwürdig von seinem alten Ich distanziert, dann hat auch er eine zweite Chance verdient.

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