Der Beginn dieses Romans liest sich wie der Anfang einer «Tatort»-Episode: Ein Kind stösst beim Schlittschuhlaufen auf dem gefrorenen Ödwilersee zufällig auf eine männliche Leiche. Weil von der Polizei niemand sonst Zeit hat, wird Polizeiarchivar Schibig abkommandiert, die Leiche zu bewachen, bis die Spurensicherung eintrifft.

Es geht mir darum, welche Geschichten wir gern immer wieder erzählen und an welche wir uns lieber nicht erinnern.
Autor: Martina Clavadetscher Schriftstellerin

Auf dem See begegnet er einer alten Frau. Weil sie feststellen, dass sie beide der rätselhafte Fall dieses Toten nicht loslässt, forschen sie in der Folge neben der Polizei her im Privaten nach, und zwar monatelang.

Derweil treffen sich im Gasthaus «Adler» regelmässig die «Herren mit Zylinder» und beratschlagen, wie sie ihre Vision der Gesellschaft vorantreiben könnten. Die Herren nennen wenig davon beim Wort, doch ihre Stossrichtung ist wenig missverständlich: Man freut sich über das Engagement einer «grossen Volkspartei aus dem Inland», bleibt aber schwammig, «da gemäss Anweisung auch nur schwammig protokolliert werden darf», und man setzt sich ein für eine «unabhängige, staatskritische Initiative».

Spielt das in der Zentralschweiz?

In dieser Runde sitzt auch Kern, ein einflussreicher Geschäftsmann und Erbe einer schwerreichen Familie aus Ödwil, in der die greise Mutter die Fäden fest in der Hand hält: eine dämonische Strippenzieherin auf dem Dachstock, die noch immer den Idealen des Nationalsozialismus nachhängt.

Ödwil ist zwar ein erfundener Ort, doch viele mehr oder weniger verhüllte Anspielungen lassen vermuten, dass der Roman diffus in der Zentralschweiz anzusiedeln ist: Der Pilatus kommt vor (samt Drachensagen, die sich um den Berg ranken), Erinnerungen an den Winkelried-Mythos klingen an.

Das Nazi-Denkmal

Immer wieder begegnen Schibig und der «Alten» auf ihrer Spurensuche Dinge, die uns aus der medialen Berichterstattung der letzten Jahre bekannt sind: Etwa ein Nazi-Denkmal auf einem Friedhof. Das, lange kaum beachtet, dann aber zur Pilgerstätte für junge Rechtsradikale wurde.

Legende: NIcht zu vergessen: Nationalsozialisten hinterlassen auch in der Schweiz ihre Spuren – wie das 1938 errichtete Soldaten-Denkmal auf dem Friedhof Daleu in Chur. KEYSTONE/Gian Ehrenzeller

Martina Clavadetscher präsentiert in ihrem Roman ein dichtes Durcheinander an Geschichte und Geschichten. Sie spinnt ihre beiden Erzählstränge immer näher zusammen – bis zum krachenden Finale am Schluss. Das tut sie in gewohnt souveräner Form: rasant erzählt, bildstark und mit einem feinen Gefühl für die Sprache ihrer Figuren.

Die Vielfalt an Geschichten im Roman hat für Clavadetscher eine tiefere Bedeutung: «Es geht mir darum, welche Geschichten wir gern immer wieder erzählen – zum Beispiel eben Drachengeschichten – und an welche wir uns lieber nicht erinnern.»

Es ist wichtig, zu wissen, auf welchen historischen Schichten wir stehen.
Autor: Martina Clavadetscher Schriftstellerin

Man sehe das beispielsweise am Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit hierzulande: «Auch in der Schweiz gab es nationalsozialistische Jugendgruppen, Hitlers Geburtstage wurden gefeiert, 1941 gab es ein Sportfest der Reichsdeutschen Jugend im Stadion Letzigrund – aber darüber redet kaum jemand.» Das sei gefährlich.

Gegen das Vergessen

Wenn es nicht im Bewusstsein bleibe, dass es diese Ideologien auch hier gab, dass sie hier immer geschlummert haben und ihre Fühler bis in die Gegenwart ausstrecken – dann könne man auch mit dem Jetzt keinen angemessenen Umgang finden. «Es ist wichtig, zu wissen, auf welchen historischen Schichten wir stehen.»

Damit klärt sich auch die Bedeutung des Buchtitels: Die Schrecken der Geschichte sollten eben nicht wie im Buchtitel als «Die Schrecken der anderen» abgetan werden.

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