Eccomi“. Hier bin ich. Dacia Maraini, die Grande Dame der italienischen Literatur, klickt sich mit der Selbstverständlichkeit einer digital native in unser Zoom-Gespräch. Die Bretter des Bücherregals hinter ihr biegen sich beträchtlich – doch der kleinen Person und großen Schriftstellerin sieht man keine Last von bald 90 Lebensjahren an. Der blaue Lidschatten sitzt akkurat wie eh und je, Maraini wirkt frisch und aufgeweckt, dabei ist sie keine zwei Tage vor unserem Gespräch zwölf Stunden von Rio de Janeiro nach Rom zurückgeflogen.
WELT AM SONNTAG: Signora Maraini, was führte Sie nach Brasilien?
Dacia Maraini: Eine Einladung meines Verlegers. Die „Marianna Ucría“ (ihr Weltbestseller über eine taubstumme Adelige aus Sizilien, auf Deutsch „Die stumme Herzogin“, Anm. d. Red.) war auf Portugiesisch lange vergriffen und wurde in neuer Übersetzung aufgelegt. Ich war nicht das erste Mal dort, hatte schon vor 20 Jahren eine Gastprofessur in Rio.
WAMS: Auf Deutsch ist gerade „Ein halber Löffel Reis“ erschienen, ein erschütternder Bericht über Ihre Kindheit in einem japanischen Internierungslager. Erschütternd, weil das in diesen Details kaum bekannt war. Man wusste nur, dass Ihre Familie seit 1938 in Japan lebte.
Maraini: Mein Vater (der Ethnologe Fosco Maraini, Anm. d. Red.) hatte ein Stipendium erhalten, um die Ainu zu studieren, ein Bärenjäger-Volk kaukasischen Ursprungs im Norden Japans. Später unterrichtete er an der Universität Kioto. Wir waren perfekt in die japanische Kultur integriert, haben uns japanisch gekleidet, japanisch gegessen. Ich war ja ein Kind und kannte nichts anderes. Von 1938 bis 1943 war alles gut.
WAMS: Und mit dem Sturz Mussolinis änderte sich alles?
Maraini: Japan hatte den Dreimächtepakt mit Deutschland und Italien geschlossen, und das japanische Regime blieb weiter an der Seite der Faschisten. Jetzt sollten sich mein Vater und meine Mutter als Auslandsitaliener zum Faschismus bekennen (Mussolinis Republik von Salò, die vom Gardasee aus mit Unterstützung der Nazis noch bis Kriegsende 1945 gegen die Alliierten kämpfte, Anm. d. Red.). Nachdem meine Eltern das beide unabhängig voneinander verweigert hatten, sagten die Japaner: Von jetzt an seid ihr Vaterlandsverräter, und deshalb müssen wir euch wie Verräter behandeln, indem wir euch ins Gefängnis stecken. Sie boten an, uns drei Kinder in ein japanisches Waisenhaus zu bringen. Doch meine Mutter sagte, nein, wenn wir sterben müssen, dann alle gemeinsam. Im Nachhinein eine Eingebung, denn das Waisenhaus in Tokio wurde später bombardiert, die dortigen Kinder fanden den Tod. Wir hatten Glück, wir haben es überlebt.
WAMS: Sie erzählen im Buch, wie Sie als Familie in der Provinz Nagoya interniert wurden. Ihr Gefangenenlager mit insgesamt 19 Personen, allesamt antifaschistische Italiener, bestand aus den Umkleideräumen eines ehemaligen Tennisclubs. Fast zwei Jahre verbrachten Sie dort und bekamen quasi nichts zu essen. 130 Gramm Reis pro Tag, Kinder waren nicht vorgesehen, weswegen jeder Erwachsene von seiner Ration einen halben Löffel abzugeben hatte.
Maraini: Mein Buch hätte eigentlich „Hunger“ heißen sollen, denn dieser Hunger war unerträglich. Man bekam alle möglichen Krankheiten, innere und äußere Parasiten, Schmerzen und Krämpfe. Man konnte nachts nicht schlafen, wurde inkontinent, musste alle fünf Minuten auf die Toilette. Der Hunger, dieser drastische Hunger, der einen zwischen Leben und Tod hält, war das Schrecklichste. Manchmal träume ich noch heute nachts, dass ich diese quälenden Schmerzen habe und das Bedürfnis, irgendetwas zu essen.
WAMS: Sie aßen sogar Ameisen und Schlangen?
Maraini: Als Kind war ich so hungrig, dass ich alles essen wollte, was mir unterkam. Ameisen durfte man nicht essen. Mein Vater sagte mir, dass sie Ameisensäure enthalten. Und die ist giftig. Ab und zu kam eine Schlange vorbei, denn das war eine Gegend mit Reisfeldern und vielen Schlangen, und natürlich wurde sie sofort gefangen, getötet und gekocht. Wir aßen die schlechtesten Schlangenstücke, weil sie Proteine enthielten, und das war überlebenswichtig für uns.
WAMS: Aus Protest gegen die Mangelernährung hat sich Ihr Vater eines Tages den Finger abgehackt?
Maraini: Mein Vater war ein Gelehrter der japanischen Kultur, er wusste um die Traditionen der Samurai. Neben dem Aufschneiden des Bauches existiert das Ritual, sich mutwillig einen Finger abzuschneiden und auf den Feind zu werfen. Derjenige, der diesen Finger empfängt, darf einen nicht mehr als Verräter oder Feigling bezeichnen. Die Aktion hinterließ tatsächlich Eindruck. Der Chef der Wachleute schaffte eine Woche später eine kleine Ziege herbei, die es uns ermöglichte, 100 oder 200 Gramm Milch pro Tag zu trinken. Dieses Eiweiß war eine Rettung für uns.
WAMS: Wie schwer fiel es Ihnen, dieses Buch schreiben? Sie haben die Lagererfahrung mit eigenen Erinnerungen und mithilfe von Tagebuch-Aufzeichnungen ihrer Eltern Fosco und Topazia rekonstruiert.
Maraini: Ich habe vor Jahren angefangen, kam aber nie richtig voran, weil es so schmerzhaft war. Erst seitdem die Kriegsgefahr wieder so präsent ist, dachte ich, dass meine Zeitzeugenschaft nützlich sein könne. Statt nur zu sagen „Ich bin gegen Krieg“ wollte ich den Menschen zeigen, wie Krieg von innen aussieht.
WAMS: Vor genau 80 Jahren war der Zweite Weltkrieg in Europa schon zu Ende. Doch für Ihre in Japan gefangene Familie hielt der Schrecken noch an, denn das Land kapitulierte erst nach Abwurf der beiden amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945. Haben Sie Erinnerungen daran?
Maraini: Wir erfuhren davon erst, nachdem wir das Lager verlassen hatten, weil es in der Gefangenschaft ja keinerlei Nachrichten gab. Ich glaube tatsächlich, dass es ein Fehler war, ein teuflischer Fehler, die Atombomben abzuwerfen, aber gleichzeitig waren diese jungen amerikanischen Soldaten unsere Retter. Sie waren es, die uns buchstäblich aus dem Lager geholt haben, unterernährt, schlecht gekleidet, krank. Wir waren in einem schrecklichen Zustand, und sie haben sich um uns gekümmert, uns gefüttert, uns verwöhnt. Und das, muss ich sagen, ist ein Aspekt der Amerikaner, der mir in sehr guter Erinnerung geblieben ist.
Auch gegen das japanische Volk hege ich keinen Groll. Sie wussten, dass wir keine Krieger oder Politiker waren. Wir waren Gelehrte, zumindest meine Eltern, normale Menschen, die wegen anderer Ideen in ein Konzentrationslager gesteckt wurden. Doch wir hatten nichts getan, was dem japanischen Volk geschadet hätte. Ich habe viele Freunde in Japan, die mich immer mit großer Zuneigung empfangen. Es spricht für sich, dass „Ein halber Löffel Reis“ auch in Japan veröffentlicht worden ist.
WAMS: Blicken wir aufs heutige Italien. Signora Maraini, Sie haben zahlreiche Bücher veröffentlicht, in denen Frauen die Hauptfiguren sind. Was denken Sie über Giorgia Meloni, die erste Ministerpräsidentin in der Geschichte Ihres Landes?
Maraini: Vom symbolischen Standpunkt aus ist es sehr wichtig und eine große Errungenschaft. Denn für Frauen gab es in der Geschichte ein absolutes Tabu: das der Repräsentation, das heißt, sie konnten im Arbeitsleben, in der Liebe, der Familie präsent sein, aber ein Volk, eine Gemeinschaft, ein Land zu repräsentieren, war ihnen nie erlaubt. Nun ist Giorgia Meloni nicht nur eine Frau an der Macht, was für mich in Ordnung ist, sondern sie ist eine rechtskonservative Frau an der Macht. Mit ihren politischen Entscheidungen bin ich nicht einverstanden, und ihre Freundschaft mit Donald Trump finde ich beunruhigend.
WAMS: Aber vielleicht kann sie Italien und Europa noch nützlich sein? Außenpolitisch scheint Meloni doch verlässlich. Sie steht mit dem Gros Europas aufseiten der Ukraine.
Maraini: Darüber bin ich auch froh. Aber das Merkwürdige an dieser Regierungschefin ist doch: Bislang agiert sie sehr unbestimmt, man könnte auch sagen widersprüchlich. Doch sie muss die Widersprüche irgendwann auflösen, auch in Bezug auf Europa. Europa braucht mehr Einigung, aber Europa kann nicht geeint sein, das ist sein Schicksal. Doch ich glaube, Europa braucht viel mehr Zusammenhalt, sonst wird es von anderen Mächten völlig aufgefressen werden.
WAMS: Fragen Sie sich als Feministin manchmal auch, warum es von Margaret Thatcher über Angela Merkel bis zu Giorgia Meloni immer Frauen aus nicht linken Parteien sind, die in die höchsten Staatsämter kommen? Warum schaffen es linke Frauen nicht nach ganz oben?
Maraini: Ein Grund könnte sein, dass die Linke, weil sie mehr an Ideologien glaubt, stets gespaltener ist. Die Betonung eigener Überzeugungen kann so weit gehen, dass jede Person ihr Recht auf eigene Interessen, ein eigenes Publikum oder sogar eine eigene Partei geltend macht. Das ist eine traditionelle Schwäche der Linken. Wer sich nie einigt, einigt sich schon gar nicht auf Frauen. Wir sehen aber umgekehrt, dass Frauen, die in rechten Parteien an die Macht kommen, nicht wirklich den Interessen der Frauen dienen.
WAMS: Sie, Signora Maraini, waren eine enge Vertraute von Pier Paolo Pasolini, dessen 50. Todestag sich im November jährt. Was hat uns Pasolinis Werk heute zu sagen?
Maraini: Pasolini hat sich gegen jede Form von Totalitarismus gestellt. Jahrhundertelang hatte die Religion den Menschen Fesseln angelegt. Pasolini erkannte: Heute ist es der Konsum, der den Menschen ein Gefängnis baut, weil wir in gewisser Weise komplett vom Konsumismus bestimmt werden. Mit Gegenständen hat es angefangen, du verbrauchst Schuhe. Lebensmittel, alles, was du nimmst und wegwirfst. Doch inzwischen konsumieren wir auch Gefühle, Ideen, Werte wie Freundschaft, Treue, Liebe, Sex sowieso. Am besten war Pasolini meines Erachtens in seinen Gedichten und Filmen, mehr noch als in seinen Romanen. Sein Kino, ich denke an „Accatone“, steht seiner Poesie sehr nahe.
Die italienische Schriftstellerin Dacia Maraini lebt in Rom. Sie wurde 1936 geboren, wuchs in Japan und Sizilien auf. Mit feministischen Romanen wie „Tage im August“ und „Die stumme Herzogin“ schuf sie Weltliteratur. Seit den 1960er-Jahren war sie mit Alberto Moravia liiert und eine enge Freundin von Pier Paolo Pasolini, worüber der 2022 erschienene Band „Caro Pier Paolo. Briefe an Pasolini“ Auskunft gibt. Ihr jüngstes Buch ist sehr persönlich: „Ein halber Löffel Reis“ (Deutsch von Ingrid Ickler, Folio Verlag) schildert ihre Kindheit in einem japanischen Internierungslager.
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