Paris am 12. Juli 2025, 15:35 Uhr. Es war wie bei einer Auktion. Als der Hammer gefallen war, waren alle Diskussionen beendet. Der Fluch der Kunstwissenschaft über eine ganze Epoche ist nur noch Geschichte. Die „Märchenschlösser“ Ludwigs II., des bayerischen „Kini“, sind „Welterbe“. Aber nicht eine Hochschule, ein Museum oder ein Institut für Denkmalpflege hat den Bann gebrochen. Es war die Unesco, die sich über alle Vorurteile der Kunstwissenschaft hinweg erkühnt hat, die so lange als „Fake-Kunst“ diffamierten Spitzenwerke des Historismus mit dem höchsten Prädikat auszuzeichnen, das die Vereinten Nationen für Kunstwerke zu vergeben haben.
Ein grandioser Sieg für die Rehabilitation des Historismus, den prägenden Baustil des 19. Jahrhunderts! Mehr als hundert Jahre war er die bestgehasste „Stilarchitektur“ aller Zeiten – verfolgt, verfemt, verlästert von allen Kunst- und Denkschulen der Moderne, von der Denkmalpflege, vom Deutschen Werkbund, vom Bauhaus, von den Expressionisten und den Nazis, zuletzt von den Wiederaufbauarchitekten im Westen wie im Osten. Keine andere Bauart wurde so anhaltend und so hasserfüllt gemeinschaftlich bekämpft. Von nun an wird man nicht mehr leugnen können, dass sie Herausragendes hervorgebracht hat. Es ist der Friedensschluss mit einem unvergleichlichen, lange verkannten Erbe.
Noch vor sieben Jahren war der leidenschaftliche Einsatz des hessischen Landeskonservators und Gründers der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, Gottfried Kiesow, gescheitert, die Stadt Wiesbaden als eine Vorzeigestadt des Historismus auf die Welterbeliste zu bringen. Dass 1999 zumindest die Museumsinsel Berlin dieser Ehre teilhaftig geworden war, hatte die Fachwelt dem königlichen Museumskonzept, mitnichten der Architektur zugeschrieben. Mit den Ludwig-Schlössern ist es nun erstmals ausdrücklich die architektonische Gestaltungslust dieser besonderen Zeit, die in den Fokus rückt. Das wird auch die festgefahrene Architekturdebatte in Deutschland in Bewegung bringen.
Die Experten und das Publikum
Das Publikum ist hier der Kunstwissenschaft um hundert Jahre voraus. Es hat Schloss Neuschwanstein, kaum dass sein Schöpfer tot war, regelrecht „gestürmt“. Neuschwanstein erweist sich, wie die Präsidentin der Deutschen Unesco-Kommission, Maria Böhmer sagt, mit Rekord-Besucherzahlen „seit nahezu 140 Jahren als Touristenmagnet“ (2024: 1,7 Millionen). Dass ihm dennoch von seriösen Architekturhistorikern wie Andres Lepik noch vor wenigen Jahren „die architektonische Bedeutung“ abgesprochen wurde, weil es ihm „an gestalterischer Innovation“ fehle (Katalog für die große Münchner Ludwig-Ausstellung 2019), bezeugt nur, wie weit sich das akademische vom populären Kunstverständnis entfernt hat.
Mit derart verhärteten Positionen wird sich künftig nicht mehr punkten lassen. „Die Aufnahme der Schlösser in die Welterbeliste ist eine herausragende Würdigung dieser eindrucksvollen Orte“, bekräftigte jetzt die deutsche Unesco-Präsidentin. „Sie sind allesamt architektonische Meisterwerke und zeugen von der künstlerischen Vorstellungskraft, aber auch der Exzentrik des Märchenkönigs.“ Aber sie zeugen, was lange verkannt worden ist, von noch viel mehr: von einem Kunstsinn, von einer Prachtentfaltung und von einem geschichtlichen Anspruch, der ihrer Entstehungszeit einen Platz unter den großen Kunstepochen sichert.
Die Gebäude des Historismus haben das Bild, dass wir uns heute von Deutschland machen, überhaupt erst geschaffen. Sie prägen das Selbstverständnis, das wir uns von unserem Land machen, von seiner Herkunft, Kultur und seinen Leistungen. Dazu gehören eben nicht nur Neubauten, sondern ganz zentral auch mittelalterliche Burgen von der Wartburg bis zur Hohkönigsburg im Elsass und zur Marienburg in Westpreußen, die von den Historisten gerettet und mit hohem Verstand und wissenschaftlichem Ehrgeiz wiederaufgebaut wurden. Dazu gehören die mittelalterlichen Dome und Münsterkirchen, die nicht nur zu Ende gebaut, sondern auch mit Türmen ausgestattet wurden, durch die vielen Städten erst jene Stadtkronen hinzugefügt worden sind, in denen wir heute den zeichenhaften Ausdruck ihrer Identität sehen.
Der Kunst, der Bildung, der Verwaltung sind wahre Paläste errichtet worden, die dadurch eine Würdigung erhielten, zu der wir uns heute nicht mehr aufschwingen können. Neben sie traten mondäne Kurbäder, die sich an der Palastarchitektur reichlich bedienten (eine Auswahl wurde schon vor vier Jahren in das Welterbe aufgenommen). Und „Paläste“ erbaute man sogar dem „kleinen Mann“, für den sich hinter zinnen- und turmgeschmückten Mietshausfassaden der „Bürgertraum vom Adelsschloss“ erfüllte. Selbst noch die Fabriken nahmen Anleihen bei der Palastarchitektur. Die neuen „Potentaten“ der Bürgergesellschaft, die Maschinen, hielt man für würdig genug, wie Fürsten willkommen geheißen zu werden.
Aber lag es nicht in der Logik der Geschichte? Obwohl – oder gerade weil – die große Zeit der Schlösser eigentlich vorbei war, wurde das Schloss zum „Traumschloss“. Für die einen symbolisierte es den gefährdeten Machtanspruch, für die anderen den von ihnen beanspruchten „Platz an der Sonne“. Und der höchste Rang gebührte dem, der mit der prachtvollsten Schlossidee auftrumpfte. Nur „Masken und Gespenster“, wie man später fand? Was für ein Irrtum!
Der Historismus wird historisch
Die Reihe neuer Fürstenschlösser des 19. Jahrhunderts hat kein Geringerer als Karl Friedrich Schinkel mit Burg Stolzenfels am Rhein eröffnet (zusammen mit Friedrich August Stüler, 1836-1842). Leo von Klenze folgte mit der Walhalla in Donaustauf (1840), die gleichsam als Schloss und Tempel der toten Geister konzipiert war, gefolgt erneut von Stüler mit der Hohenzollernburg in Hechingen (1850-1867) und dem Schloss der Mecklenburger Herzöge in Schwerin (1845-57) – einem Prachtbau, an dem auch Gottfried Semper, Georg Adolf Demmler und Ernst Friedrich Zwirner mitgewirkt haben sollen und in dem heute der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern residiert.
Adolph Lohse und Christian Friedrich Arnold schlossen sich mit den Albrechtschlössern in Dresden an (1850-61), Conrad Wilhelm Hase fügte das Welfenschloss Marienburg in Pattensen bei Hannover hinzu (1858-1867). Und auch damit ist die Reihe noch lange nicht komplett. Als letztes Bauwerk in der deutschen Schlösserreihe ist das Schloss des Kaisers zu nennen: das Kaiserschloss von Posen (Franz Schwechten, 1905-13), das bereits dem 20. Jahrhundert angehört. Der im „Mittelalterstil“ errichtete machtvolle Bau hat seine eigene Symbolik. Der Kaiser besuchte ihn nur ein einziges Mal. Dreißig Jahre später hat ihn Albert Speer zum Führerpalast umgebaut, heute dient er den Polen als Kulturzentrum.
Das Schloss des Historismus ist nie als eigene Gattung gewürdigt worden, die Namen seiner Architekten wurden vergessen, seine Bestimmung blieb der Kunstwissenschaft verschlossen. Erst heute, wo es selbst historisch geworden ist, wissen wir, dass es einen Gipfelpunkt historistischer Baukunst einnimmt. Und hier beanspruchen die Welterbe-Schlösser Ludwigs II. einen Sonderrang.
Nach den Vorstellungen des Königs sollten sie „leere“ Schlösser sein, in denen nur er selbst wohnte, in die er nicht einmal Familienangehörige einließ: Linderhof (Georg von Dollmann und Julius Hofmann, 1870-86), Herrenchiemsee (Georg von Dollmann und Julius Hofmann,1878-86) und Neuschwanstein (Eduard von Riedel, Georg von Dollmann und Julius Hofmann 1868-92). Zuletzt noch das „Königshaus“ auf dem Schachen, das mit orientalischen Interieurs wie dem „Türkischen Saal“ Anleihen selbst noch bei der Alhambra nahm – einem Bauwerk, in dem der hochgebildete Bayernkönig ein „gottvolles Denkmal der Blüthezeit des maurischen Baustyles“ sah, der, wie er schrieb, „zu dem Vollendetsten gehört, was je Menschen zu schaffen vermochten“.
„Die schauderhafte Zeit, in der wir leben“
Was wurde hier zelebriert? Eine Gegenwelt der Kunst und der Schönheit, die sich dem platten Ökonomismus und Materialismus des heraufziehenden Industriezeitalters verweigerte und Positionen verpflichtet war, wie sie die Frühromantiker mit ihrer Imagination eines „Goldenen Zeitalters“ und Friedrich Schiller in der „Ästhetischen Erziehung des Menschen“ (1795) vertreten hatten. Dort hatte der von Ludwig leidenschaftlich verehrte Dichter den „alles trennenden Verstand“ und damit mittelbar die philosophisch-kritische Praxis der Aufklärung verantwortlich dafür gemacht, dass die einstige „Totalität der Gattung“ verloren gegangen sei.
Jetzt müsse unterschieden werden zwischen einer „luxurierenden Einbildungskraft“, die „die mühsamen Pflanzungen des Verstandes verwüstet“, und einem Abstraktionsgeist, der das Feuer ersticke, „an dem das Herz sich hätte wärmen und die Phantasie sich entzünden sollen“. So wie Schillers Kulturkritik im Bild einer „Zerrüttung“ gipfelt, beklagte Ludwig die „verhasste Gegenwart“, aus der er sich in „poetische Zufluchtsorte“ flüchten müsse, um „einige Zeit die schauderhafte Zeit, in der wir leben, vergessen“ zu machen.
Tatsächlich errichtete Ludwig seine Schlösser, die ihn in hohe Schulden stürzten (und Bismarck in den Stand versetzten, ihm die Zustimmung zur Kaiserkrönung des Preußenkönigs Wilhelm abzukaufen), nicht „für die Ewigkeit“. Bei seinem Tod sollten sie gesprengt werden. Ludwigs Ende markierte das Ende einer Epoche. Zuerst sperrte ihm die Regierung seines Landes die Gelder. Dann erklärte sie ihn für verrückt.
Mit ihm wurde nicht nur ein Mensch mit den wunderlichsten Anlagen, sondern ein ganzes Jahrhundert für geisteskrank erklärt – ein Jahrhundert, das ja nicht nur das Jahrhundert der Industriellen Revolution war, sondern das sich als eine Epoche in die Geschichte der Menschheit eingetragen hat, in der Kunst, Philosophie und Naturwissenschaften zu höchster Blüte emporgetrieben wurden, wenn auch auf eine bis dahin völlig undenkbare Weise. Mit dem Tod des Königs im Starnberger See ertrank es mitsamt seinen Obsessionen und Errungenschaften in den schwappenden und schnappenden Wellen einer neuen mitleidlosen Zeit.
Wenn jetzt mit dem Ehrentitel der Unesco an Ludwigs singuläres Lebenswerk erinnert wird, taucht ein ganzer versunkener Erdteil aus den Fluten auf. Mit ihm kehren auch die Fragen zurück, die Ludwig offen gelassen hat und über die er selbst gesagt haben soll: „Ein ewig Rätsel will ich bleiben mir und Anderen.“
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