Es kommt nicht häufig vor, dass sich eine Autorin – etabliert, vielfach geschätzt von der Kritik und den Kolleginnen – noch einmal ganz neu erfindet und ihrem Gesamtwerk gewissermaßen ein zweites an die Seite stellt wie in einem literarischen Paralleluniversum. Als 2008 Ursula Krechels Roman „Shanghai fern von wo“ erschien, der die umfassend und aufwendig recherchierte Geschichte der jüdischen Emigranten erzählt, die den Holocaust im Getto von Shanghai überlebten, da hatte die 1947 geborene Autorin die magische Lebenswerk-Schwelle schon überschritten: Im Feuilleton ist der 60. Geburtstag traditionell derjenige, zu dem erstmals bilanzierende Rückblicke erscheinen.
Der Roman bildete den Auftakt zur großen beeindruckenden Trilogie ihres Spätwerks. Der 2012 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Roman „Landgericht“ erzählt das bittere Schicksal des nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem kubanischen Exil nach Deutschland zurückgekehrten jüdischen Richters Richard Kornitzer, der in der Adenauer-Zeit verzweifelt um seine Rehabilitierung kämpft. Schließlich „Geisterbahn“ (2018), das umfangreichste der drei Bücher, das die Geschichte einer Sinti-Familie in Ursula Krechels Heimatstadt Trier von der Nazi-Zeit bis in die Bundesrepublik erzählt. Die Überlebenden der Verfolgung und Vernichtung begegnen erneut den Geistern der Vergangenheit.
Dass der Ungeist des Faschismus nicht tot ist, sondern mal versteckt, mal offen weiterlebt, ist eine Grunderfahrung der Generation von Ursula Krechel, deren schriftstellerische Anfänge in den Siebzigern in eine hochpolitisierte und -polarisierte Öffentlichkeit fielen. Als junge Frau, erst in Köln, dann in Darmstadt und seit 1978 in Frankfurt wurde sie eine wichtige Stimme erst der Frauenbewegung, dann der „Frauenliteratur“, in erster Linie als Dichterin. Gedichtbände wie „Verwundbar wie in den besten Zeiten“ (1979) oder „Vom Feuer lernen“ (1985) brachten einen besonderen Ton in die (westdeutsche) Lyrik, der erfahrungsgesättigte Beobachtung mit hohem Formbewusstsein verband.
Krechel stand als Dichterin immer im Dialog mit Vorläufern (und vor allem Vorläuferinnen); sie ist eine Poeta docta, deren Texte dennoch nie in Gefahr geraten, verkopft oder akademisch zu werden. In ihrem 1982 erschienenen Band „Lesarten“ hat sie ihre Lieblingsgedichte von Karoline von Günderrode bis Gertrud Kolmar, von Shakespeare bis Nelly Sachs, von Osip Mandelstam bis Rolf Dieter Brinkmann luziden Deutungen unterzogen und ihren ganz eigenen Kanon aufgestellt.
Büchnerpreis wäre viel früher verdient gewesen
2014 erschien (bei Jung und Jung) der wunderbare Auswahlband „Die da“, der ihre Gedichte nicht chronologisch, sondern thematisch neu verknüpft und dabei überraschende Querverbindungen offenlegt. Wenn man sich dieses Konzentrat ihres dichterischen Werks vor Augen hält, dann hatte sie allein dafür schon den Büchnerpreis verdient gehabt, und das schon viel, viel früher. Umso erstaunlicher, dass sie in den vergangenen zwanzig Jahren ein Prosawerk vorgelegt hat, dass ebenfalls für sich genommen die immer noch wichtigste Auszeichnung für deutschsprachige Literatur rechtfertigt.
Zwar hat Krechel auch schon früher Prosa geschrieben, aber das hat ihre Autorschaft nicht definiert. Im Gespräch hat sie erzählt, sie hätte mit vierzig solche Romane wie in der Trilogie gar nicht schreiben können: ökonomisch unsichere Verhältnisse, wo allenfalls auf Jahressicht geplant werden kann, ließen solche Großprojekte mit Recherchen in Archiven gar nicht zu. Tatsächlich ist die Materialfülle beeindruckend, die Krechel in ihre semidokumentarischen Romane eingeschmolzen hat, vor allem in „Geisterbahn“. Auch die Geschichte Kornitzers in „Landgericht“ hält sich eng an ein historisches Vorbild. Krechels Werke sind auch Zeitgeschichtsforschung, ein Versuch der literarischen Wiedergutmachung.
Wer einen Seiteneinstieg ins Werk der Büchnerpreisträgerin sucht, der greife zum Band „Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen.“, der 2022 erschien und wie die Kür zu einer jahrelangen (bei aller Liebe zum Archiv nicht immer nur angenehmen) schriftstellerischen Pflicht wirkt, mit wunderbar abseitigen Essays und Reflexionen über das Träumen, über das Schreiben und, doch, tatsächlich über Bäume, vor allem Apfelbäume. Nicht zuletzt auch mit Reisen, die pandemiebedingt nur im Kopf stattgefunden haben, aber das sind ja oft die schönsten und produktivsten. In diesem Frühjahr erschien der Roman „Sehr geehrte Frau Ministerin“, der von den immer noch aktuellen Schwierigkeiten erzählt, sich mit weiblicher Erfahrung in einer jahrtausendealten männlichen Macht-Geschichte zu behaupten.
Doch egal, ob Gedicht, Roman oder Essay, alle Werke von Krechel durchzieht eine besondere politisch-poetische Energie, eine mitreißende, jugendliche Dynamik, mit der sie auch ihr Gegenüber in der persönlichen Begegnung ansteckt. Sie verfügt über die wunderbare Fähigkeit zur offenen und ehrlichen Empörung, oder umgekehrt gesagt, über die Unfähigkeit, sich abzufinden mit unfreien, ungleichen Verhältnissen, auch wenn sie wie unveränderlich erscheinen mögen. Bei Krechel wird diese Empörung in Sprachkraft transformiert.
Seit Ende der 90er-Jahre lebt Krechel mit ihrem Mann Herbert Wiesner, Literaturkritiker und jahrzehntelangen Mitarbeiter der „Literarischen Welt“, in Berlin. Im Bayerischen Viertel in Schöneberg, wo sie wohnen, findet man buchstäblich auf Schritt und Tritt die Spuren der hier einst lebenden Verfolgten, Vertriebenen und Ermordeten, auch vor Krechels Haus liegt ein Stolperstein. Wenige Straßen weiter steht das „Judenhaus“, in dem die Dichterin Gertrud Kolmar vor ihrer Deportation nach Auschwitz lebte. Die Geister, die bösen und die guten, die sind hier und heute immer noch zu finden. In Ursula Krechels Werk werden sie aus der Unsichtbarkeit geholt.
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