Als der Morgen über al-Faschir dämmert, die Geschosse mal wieder in der Nachbarschaft einschlagen, kauert Mohammed Duda mit seiner Frau und den beiden Kindern hinter einer brüchigen Mauer seines Hauses. Ein wenig Schutz, oder zumindest die Illusion davon in einem Krieg, vor dem es keinen Schutz gibt. Fünf Brüder sind tot, Dutzende Freunde auch.
Zweimal muss Duda, 40, das Telefonat verschieben. „Die RSF greift an“, schreibt er beim ersten Mal auf WhatsApp, „ich melde mich, wenn die Situation ruhiger ist.“ Später nur: „Drohnen am Himmel.“ Alltag in al-Faschir, der letzten Bastion der sudanesischen Armee in Darfur, einer rohstoffreichen Region im Westen des Sudans.
Seit mehr als einem Jahr ist die Hauptstadt des Bundesstaates Schamal Darfur eingeschlossen von den Truppen der mit der Armee rivalisierenden Rapid Support Forces (RSF). Fast jeden Tag Dauerbeschuss. Und Duda ist einer von Hunderttausenden Zivilisten, die nicht entkommen können.
Was in al-Faschir geschieht, ist Teil eines Krieges, der seit April 2023 den Sudan zerreißt – und die Weltöffentlichkeit kaum interessiert. Auf der einen Seite kämpft die reguläre Armee unter General Abdel Fattah al-Burhan, auf der anderen die RSF von General Mohamed Hamdan Dagalo, genannt Hemeti. Was als Machtkampf in Khartum begann, ist längst zum Stellvertreterkrieg zwischen Regionalmächten geworden.
Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) gelten als wichtigste Unterstützer der RSF. Über Luftbrücken im Tschad und in Libyen liefern sie Waffen, Drohnen und Munition – mit dem Ziel, ihren Einfluss im Sahel und auf die sudanesischen Goldminen zu sichern. Die RSF wiederum betreibt Schmuggelnetzwerke bis nach Dubai. Gold aus Darfur, dessen Fläche größer ist als die von Deutschland, wird dort zu Kapital, das Hemeti in Kriegsgerät umwandelt.
Die sudanesische Armee hingegen stützt sich auf Ägypten. Kairo fürchtet einen Zusammenbruch des Sudan, der neue Migrationswellen oder den Verlust des traditionell hohen Einflusses in seinem südlichen Nachbarland zur Folge hätte.
Der studierte Ingenieur Duda war einmal Sprecher des Flüchtlingscamps Zamzam, einer, der den Vertriebenen seiner Volksgruppe, der Massalit, eine Stimme geben wollte. Bis die RSF das Lager angriffen und Duda mit seiner Familie und einer Schussverletzung im Bein ins nahegelegene al-Faschir floh.
Jetzt ist die Stadt seine Falle. Hunderttausende Menschen harren dort aus – eingekesselt, dem Artilleriebeschuss der RSF ausgesetzt, gezeichnet von Hunger und Krankheiten. „Wenn jemand verletzt wird, muss er Glück haben, einen der letzten zehn Ärzte zu finden“, sagt Duda. Die meisten Kliniken sind zerstört, Medikamente kaum noch erhältlich.
Die Armee hat improvisierte Schutzräume eingerichtet, einige der leer stehenden Schulen etwa, oder Container. Viele aber fürchten selbst den Weg dorthin, graben Löcher auf ihren Grundstücken und suchen darin Zuflucht vor den RSF-Offensiven. Mehr als 200 gab es seit April 2024.
Der Preis für ein Kilogramm Sorghum-Hirse ist in al-Faschir zwanzigmal höher als außerhalb der belagerten Stadt. Für Medizin auch. Todesmutige schleichen sich in der Nacht hinaus in die zehn Stunden Fußmarsch entfernte nächste Stadt. Wer durchkommt, kann auf dem Rückweg Lebensmittel hineinschmuggeln. Wer Pech hat, wird von der RSF gefasst, verschleppt, ermordet. Oder muss sich – im besten Fall – freikaufen.
Für Duda ist ein Verlassen von al-Faschir keine Option. Er ist als langjähriger Wortführer der Massalit zu bekannt, zu gefährdet. Geld fließt nur noch über Verwandte aus dem Ausland – über mobile Bezahldienste, beim Umtausch in Bargeld wird dabei oft nur die Hälfte ausgezahlt. Hilfskonvois werden von der RSF blockiert, die Stadt ist von allen Seiten abgeschnitten. Internationale Hilfsorganisationen? „Alle weg“, sagt Duda, „weil die RSF sogar Spitäler beschießt.“ Es gab auch bei den humanitären Helfern zahlreiche Tote.
Während al-Faschir im Belagerungszustand verharrt, wächst in den Nachbarländern eine humanitäre Krise, die auch Europa betreffen könnte. Rund 600.000 Menschen sind laut UNHCR seit Beginn des Krieges in den Tschad geflüchtet – viele von ihnen sind wie Duda Angehörige der Massalit, die in Camps an der Grenze unter prekären Bedingungen leben.
Zudem wächst die Zahl jener, die über Libyen und Niger versuchen, die Sahel-Route Richtung Mittelmeer zu nehmen – wenn auch auf niedrigem Niveau. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) berichtet von einem „spürbaren Anstieg“ sudanesischer Migranten in Niger – konkrete Zahlen nennt die Organisation nicht, spricht aber von einer neuen Fluchtbewegung entlang der etablierten Routen von Agadez Richtung Libyen.
Wie beim Völkermord vor 22 Jahren
Auch die EU-Grenzagentur Frontex meldete zuletzt einen Anstieg sudanesischer Ankünfte über das zentrale Mittelmeer. Zwischen Januar und Mai 2025 registrierten die Behörden 1469 sudanesische Ankünfte – nach lediglich 361 im Vorjahr. Weitere 900 Sudanesen wurden auf See abgefangen und nach Libyen zurückgebracht. In Europa selbst kamen in den ersten beiden Monaten des Jahres 484 Sudanesen an – ein Zuwachs von 38 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum 2024.
In Darfur eskaliert der Konflikt derweil wie schon beim Völkermord im Jahr 2003 erneut entlang ethnischer Linien. Die RSF, ursprünglich aus den schon damals mordenden Dschandschawid-Milizen hervorgegangen, belagert al-Faschir seit Monaten. Immer wieder greifen ihre Kämpfer Massalit-Dörfer an, plündern, vergewaltigen, morden. Die Massalit haben sich seit jeher gegen die Dschandschawid gewehrt – und gelten als erklärtes Ziel.
„Es ist Völkermord“, sagt Duda am Telefon. Mehr als 150 Menschen seien allein bei der vergangenen Attacke auf Zamzam getötet worden, viele Leichen liegen dort bis heute auf den Straßen. Über Vergewaltigungen spricht Duda nur zögerlich. „Wir wissen von über 70 Fällen – aber niemand spricht darüber. Aus Scham. Und aus Angst.“
Es fällt ihm nicht immer einfach, die Hoffnung zu bewahren. Während es für Gaza oder die Ukraine globale Aufmerksamkeit gibt, verhallt der Notruf von Menschen wie ihm aus al-Faschir ungehört. „Wir hoffen, dass die Armee Verstärkung schickt“, sagt Duda. „Sonst sterben wir. Durch Bomben – oder an Hunger.“ Ein bis zwei Monate bleiben ihm und seiner Familie noch, glaubt Duda. „Länger nicht.“
Christian Putsch ist Afrika-Korrespondent. Er hat im Auftrag von WELT seit dem Jahr 2009 aus über 30 Ländern dieses geopolitisch zunehmend bedeutenden Kontinents berichtet.
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