Kaum hatte der Konvoi aus 25 Lastwagen mit Lebensmitteln die Grenze im Norden des Gaza-Streifens überquert, stürmten Hunderte palästinensische Zivilisten auf ihn zu. Die aufgebrachten Menschen hatten bereits länger an dieser Stelle kampiert und die Lieferung erwartet. Das geht aus übereinstimmenden Aussagen von Zeugen und Mitarbeitern des am Konvoi beteiligten UN-Welternährungsprogramms hervor. Soldaten der israelischen Armee (IDF) in der Nähe des Konvois eröffneten daraufhin das Feuer. So bestätigte es später ein Sprecher. Laut der Nachrichtenagentur AP unter Berufung auf Daten aus Krankenhäusern soll es mindestens 80 Todesopfer gegeben haben. Auch die IDF bestreitet nicht, dass Menschen gestorben sind, zweifelt aber die Höhe der Todesopfer an. Der Sprecher sagte, die Soldaten hätten zunächst „Warnschüsse“ abgeben, um die Menschenmenge aufzuhalten und eine „unmittelbare“ Gefährdung ihrer Truppen abzuwenden.

Berichte über tödliche Szenen wie diese am vergangenen Sonntag gibt es seit Wochen. Nahezu täglich sterben Menschen in der Nähe von Vergabestellen für humanitäre Güter. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind es inzwischen mehr als 1000. Internationale Organisationen werfen Israel vor, die humanitäre Hilfe seinen militärischen Zielen unterzuordnen und eine Hungersnot zuzulassen – und fordern unbeschränkten Zugang zum Gaza-Streifen. Bilder zeigen hungernde und kranke Menschen, darunter viele Frauen und Kinder.

Der israelische Journalist Shlomi Eldar hält viele der besorgniserregenden Berichte aus Gaza für glaubwürdig. Der Buchautor und Filmemacher, der derzeit als Korrespondent für den Sender Channel 13 arbeitet, berichtet seit mehr als 30 Jahren aus und über den Küstenstreifen und entging selbst nur knapp einem Entführungsversuch der Hamas.

„Natürlich kann ich nicht alle Berichte über Tote bei den Verteilungen überprüfen“, sagt Eldar, „aber ich habe vor zwei Tagen mit meinem Freund Muin al-Hiluh in Gaza telefoniert. Er hat mir erzählt, dass sein Neffe an diesem Tag von einer Kugel getötet wurde, als er Nahrungsmittel von einem Truck holen wollte, die von der israelischen Armee freigegeben worden waren.“

„Muin selbst hungert, er ist zu schwach, um auf eigenen Beinen zu stehen“, berichtet Eldar. „Ihn und viele der anderen Menschen in Gaza, mit denen ich Kontakt halte, kenne ich seit Jahrzehnten. Ich vertraue ihnen. Für mich besteht kein Zweifel, dass es weitverbreitete Mangelernährung in Gaza gibt. Wenn sich nichts ändert, dann könnten dort zahllose Menschen an Hunger sterben.“

Anfang des Jahres hatte Israel dem Palästinenserhilfswerk UNRWA die humanitäre Versorgung untersagt mit der Begründung, die Hamas stehle systematisch Teile der Güter und sichere so ihr Überleben. Seit Ende Mai ist die von Israel gesteuerte Stiftung Gaza Humanitarian Foundation (GHF) größter Verteiler.

Seitdem gibt es in dem abgeriegelten Küstenstreifen viel weniger Vergabestellen, Menschen müssen oft viele Kilometer durch Gefechtszonen laufen, um sie zu erreichen. Der Andrang ist groß und Israel kann offenkundig keine Sicherheit garantieren. Nach Angaben der israelischen Behörden kämen pro Tag 200 bis 300 Lkw-Ladungen mit Versorgungsgütern in den Gaza-Streifen, sagt Eldar. Aber das reiche nicht, so Journalist Eldar. „Nicht einmal 600 Laster am Tag wären genug“, sagt er, „es bräuchte Tausende, um die mehr als zwei Millionen Menschen zu versorgen.“ Nach seinen Erkenntnissen kostet ein Kilo Mehl auf dem Schwarzmarkt in Gaza derzeit 100 Schekel, umgerechnet etwa 25 Euro, ein Kilo Zucker sogar mehr als 70 Euro. „‚So können nur die Reichen überleben‘, hat mir ein Geschäftsmann aus Gaza gesagt“, so Eldar.

25 europäische Länder forderten zu Beginn der Woche, die Kampfhandlungen in dem abgeriegelten Küstenstreifen zu beenden und die Versorgungslage zu verbessern. Israels Modell zur Bereitstellung von Hilfsgütern sei „gefährlich“, schüre „Instabilität“ und beraube die Menschen „ihrer Menschenwürde“, heißt es in der Erklärung. Deutschland beteiligte sich nicht an diesem Aufruf.

Aber Außenminister Johann Wadephul (CDU) sagte: „Wir fordern Israel dringend auf, die Vereinbarungen mit der EU zur Ermöglichung humanitärer Hilfe umzusetzen“. Brüssel hatte kürzlich mit Israel vereinbart, dass die humanitäre Versorgung deutlich verbessert würde – im Gegenzug verzichtete man auf Sanktionen gegen den jüdischen Staat, wie aus Diplomatenkreisen zu hören war.

Israels Außenministerium wies die Kritik am Mittwoch zurück und sagte, verantwortlich für die Lage sei die Hamas, die weder die israelischen Geiseln freilassen noch kapitulieren wolle. Mitarbeiter der Gaza Humanitarian Foundation vor Ort werfen der Miliz vor, die Ausgabe zu sabotieren und ihrerseits Hilfsbedürftige anzugreifen. Videos zeigen mutmaßliche Hamas-Mitglieder, die Menschen offenbar dafür bestrafen, Hilfsgüter angenommen zu haben.

Allerdings gibt es viele von Forensikern als glaubwürdig eingestufte Berichte, dass die meisten Zivilisten durch israelische Kugeln starben. Die Zeitung „Haaretz“ berichtete, dass IDF-Kommandeure den Beschuss von Menschenmengen mit scharfer Munition unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt hätten.

Hamas befindet sich nahe am Ruin

Der Journalist Eldar ist in seiner Kritik differenziert. Berichte über vorsätzliche Tötungen unschuldiger Palästinenser durch israelische Soldaten sieht er skeptisch. Wahrscheinlicher sei, dass es zu Überreaktionen komme, wenn sich junge Wehrdienstleistende einer großen Menge ausgehungerter Menschen gegenübersähen. Was Israels Vorwürfe angehe – dass die Hamas in der Vergangenheit UN-Hilfen abgegriffen habe – so könne er solche Berichte im Einzelnen weder bestätigen noch dementieren, sagt Eldar. „Aber natürlich versucht die Hamas alles, um die Kontrolle über die Hilfe zu erlangen. So versucht sie, ihre noch verbliebene Macht im Gaza-Streifen zu suggerieren.“

Einer Recherche der „Washington Post“ zufolge steht die Hamas vor dem Ruin und kann weder ihre Kämpfer noch Polizei- und Verwaltungskräfte bezahlen. Unter Bezug auf Quellen in Gaza heißt es in dem Bericht, dass die Hamas tatsächlich viele ihrer Einnahmen aus dem Diebstahl von Hilfsgütern erzielt hätte und aus Zwangsabgaben, die sie von Händlern einfordere.

Seit der Umstellung auf die Gaza Humanitarian Foundation würden ihr zunehmend die Mittel ausgehen. Zivilisten, die sich weigerten, beim Diebstahl von Gütern zu helfen, würden mit dem Tode bedroht. Allerdings reiche das Geld der Hamas noch immer, um junge Männer aus dem Elend in Gaza heraus zu rekrutieren, die etwa Anschläge mit Sprengstoff auf israelische Soldaten verübten oder als Späher eingesetzt würden.

Nach Einschätzung von Shira Efron, Expertin für Hilfssysteme im Gaza-Streifen beim Israel Policy Forum, geht es in Gaza längst um eine größere Frage als die der Verteilung von Hilfslieferungen. „Es wird ein Schuldzuweisungsspiel gespielt“, sagte Efron der „New York Times“. Dabei schaue jede Seite auf technische Details, wie humanitäre Güter verteilt würden. „Das größere Problem ist jedoch die Gesetzlosigkeit und der Zusammenbruch der Regierung“, sagte Efron. Nach 22 Monaten Krieg herrsche in Gaza Anarchie. „Ohne die Kernfrage zu klären, wie es in Gaza weitergehen soll, wird es keine Lösung geben.“

Schon lange warnen auch israelische Sicherheitsexperten vor einem Vakuum, für das Israels Regierung Antworten finden müsse. Aussagen über eine Nachkriegsordnung vermeidet Premierminister Benjamin Netanjahu aber und betont das Ziel eines „totalen Sieges“. Vorschläge, dass etwa die Palästinensische Autonomiebehörde aus Ramallah oder Sicherheitskräfte arabischer Länder eine Rolle im Gaza-Streifen einnehmen könnten, lehnt Jerusalem kategorisch ab.

Zu den prominenten Kritikern dieser Politik gehört auch Israels ehemaliger Premierminister Ehud Olmert: „Wir kontrollieren Gaza“, sagte Olmert. Es sei also Israels Pflicht dafür zu sorgen, dass „die richtigen Vorkehrungen“ getroffen würden. „Wenn sie nicht getroffen werden, liegt das daran, dass die israelische Regierung sie nicht will.“

Zweifel in der israelischen Armee

Auch der Journalist Eldar sagt, dass es durchaus im Interesse eines Teils der israelischen Regierung liege, dass das neue Hilfssystem nicht funktioniert – nämlich in dem jener Koalitionspartner, die der nationalreligiösen Siedlerbewegung nahestehen und die mit Finanzminister Bezalel Smotrich und Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir im Kabinett vertreten sind.

„Smotrich und Ben Gvir sagen schon seit Langem, dass die Versorgung von Gaza beschränkt werden müsse, um Hamas zu vernichten“, sagt Eldar. „Für sie ist dieser Krieg der Anfang der Erlösung, an deren Ende die Rückkehr des Messias steht. Sie wollen jüdische Siedlungen im Gaza-Streifen errichten und dabei würde es natürlich helfen, wenn so viele Palästinenser von dort verschwinden, wie möglich.“ Die Nationalreligiösen hätten Netanjahu in der Hand, weil er ohne sie sein Amt verlieren würde, so der Journalist.

In der israelischen Armee stoße das Vorgehen in Gaza auf immer weniger Verständnis. „Für mein nächstes Buch spreche ich mit vielen hochrangigen Offizieren“, sagt Eldar, „und viele sagen, sie wüssten nicht, wofür sie in Gaza eigentlich noch kämpfen“. Die Hamas sei so weit besiegt wie möglich und von den noch etwa 50 israelischen Geiseln im Gaza-Streifen würden vielleicht noch 20 leben. Immerhin ihr Leben könne man durch eine Einigung mit der Auslandsführung der Hamas retten. „Viele in der Armee haben das Gefühl, dass sie eigentlich nur noch kämpfen, um Netanjahu im Amt zu halten.“

Während Verhandlungen um einen Waffenstillstand und eine Freilassung der Geiseln bislang ohne Ergebnis bleiben, hat Israel seine Offensive auf Teile des Gebietes ausgeweitet, in die die Armee bisher nicht vorgedrungen war. In Deir al-Balah im zentralen Gaza-Streifen soll die Armee auch Warenlager der Weltgesundheitsorganisation angegriffen haben, schrieb Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus auf X.

Rund 88 Prozent des Gaza-Streifens sind nicht mehr für Zivilisten zugänglich. Auf dem verbleibenden Gebiet drängen sich rund zwei Millionen Menschen, oft in Plastikzelten ohne Zugang zu Wasser. Die schlechte Versorgungslage treffe ganz überwiegend die Falschen, meint Eldar. „Die Behauptung, die Bevölkerung von Gaza stehe hinter der Hamas ist einfach falsch“, sagt der Reporter. Schon lange vor dem 7. Oktober 2023 habe die Mehrheit der Menschen im Küstenstreifen nicht mehr hinter der Terrormiliz gestanden. Wegen der Ereignisse nach dem Angriff auf Israel sei die Wut auf Hamas noch gewachsen.

„Ich kenne einen Fall, in dem Palästinenser, die aus Gaza geflohen waren, einen hochrangigen Führer in einem Einkaufszentrum in Kairo erkannten, der auf dem Weg zu Verhandlungen mit dem ägyptischen Vermittler war“, sagt Eldar. „Wie haben sie reagiert, als sie ihn sahen? Sie haben ihn geschlagen. Wegen allem, was seit dem Angriff der Hamas im Oktober 2023 in ihrer Heimat geschehen ist.“

Auch der amerikanisch-palästinensische Analyst Ahmed Fouad Alkhatib vom Atlantic Council, der regelmäßig mit Menschen in Gaza spricht, berichtet von Wut und Protesten der Menschen gegen die Hamas. Gleichzeitig bezeichnet Alkhatib das von Israel neu eingerichtete Hilfssystem als gescheitert. „Der Hunger ist so schlimm wie nie zuvor“, sagt Alkhatib. Die Menschen wollten nur noch eines: „den Gaza-Streifen verlassen“.

Zwar trat Israels Außenminister Gideon Saar Befürchtungen entgegen, dass Israel Pläne für eine Vertreibung von Palästinensern vorbereite. „Es wird so etwas wie eine erzwungene Umsiedlung von Bewohnern Gazas nicht geben“, sagte Saar. Allerdings hatte Verteidigungsminister Israel Katz kürzlich angekündigt, auf den Trümmern der Stadt Khan Junis im Süden eine „humanitäre Stadt“ zu errichten, aus der „ausreisewillige Palästinenser“ den Küstenstreifen in andere Länder verlassen könnten – sobald denn Aufnahmeländer gefunden seien.

Daniel-Dylan Böhmer, Senior Editor im Ressort Außenpolitik, bereist die Länder des Nahen Ostens seit Jahrzehnten. Er befasst sich vor allem mit regionalen und globalen Sicherheitsthemen und wird regelmäßig als Experte in nahöstlichen TV- und Radiosendern befragt.

Managing Editor Philip Volkmann-Schluck berichtet für WELT über internationale Politik mit einem besonderen Fokus auf den Nahen Osten, China und Südosteuropa.

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