Yanni Gentsch joggt durch den Wald im südlichen Köln, als sie einen Schatten hinter sich bemerkt. Ein Mann auf dem E-Bike – dunkelblaue Steppjacke, schwarze Hose, Wollmütze – verfolgt die junge Frau, filmt sie. Später wird Gentsch erzählen, dass sie in jenem Moment auf Autopilot geschaltet habe. Denn sie konfrontiert den Mann, hält seinen Fahrradlenker fest, fordert ihn auf, das Video zu löschen.

Der Mann leugnet seine Tat, bis Gentsch ihn auffordert, den „Gelöscht“-Ordner zu zeigen – wo das Video noch zu sehen ist. „Es tut mir leid, mein Gott“, sagt er. Er mache das eigentlich nicht. „Normal nie, normal nie.“ Sie erklärt ihm, dass seine Handlung sich bedrohlich für sie anfühle und es Mut koste, sich gegen einen körperlich überlegenen Mann wie ihn zu wehren. Es folgt ein Wortwechsel, der wenig nach Reue klingt:

Er: „Ich habe Ihnen doch nichts getan.“

Sie: „Doch, Sie haben mich gefilmt beim Laufen, wahrscheinlich auf meinen Arsch. Warum? Warum? Haben Sie Kinder?“

Er: „Wenn Sie sich so pro … darstellen. Haben Sie sich mal von hinten gesehen?“

Sie: „Nein, meine Klamotten sind keine Einladung!“

Er: „Ich stehe nicht auf Ärsche, ehrlich.“

Sie: „Ist mir scheißegal. Wollen Sie jetzt fahren?“

Er: „Ja, ich fahr.“

Das Gespräch geht dem Ende entgegen, der Mann stellt ihr noch eine Frage: „Warum ziehen Sie sich denn so eine Hose an? Das verstehe ich nicht“, sagt er zu Gentschs Laufleggings. Gentschs Antwort: „Weil ich laufen gehe.“ Er: „Es gibt auch normale Hosen.“ Die eigentliche Schuld für sein belästigendes Verhalten, so scheint es, sieht der Filmer offenbar bei Gentsch.

Die Szene ist in einem von Gentsch gefilmten Video zu sehen, das die damals 30-Jährige im Februar auf Instagram veröffentlicht hat. Mittlerweile wurde es allein dort mehr als 15 Millionen mal angesehen, viele Frauen berichten im Kommentarfeld von ähnlichen Erfahrungen mit unerwünschtem Filmen oder Fotografieren durch Männer. Es folgte ein großes Medienecho, viele loben Gentschs Mut, sich dem Mann entgegengestellt zu haben.

Bei der Polizei wollte sie nach dem Vorfall Anzeige gegen den Filmer erstatten. Doch das ging nicht. Das Handeln des Mannes ist nicht strafbar. „Es wird zu wenig getan, um Frauen zu helfen“, sagte Gentsch dem „Spiegel“. „Die Rechtslage muss sich ändern. Wieso kann ich einen solchen Vorfall nicht anzeigen?“

Für unerlaubtes Fotografieren oder Filmen des Körpers käme etwa der 2020 von der damaligen großen Koalition aus Union und SPD geschaffene und seit 2021 geltende Paragraf 184k des Strafgesetzbuchs infrage. Darin soll das sogenannte Upskirting, also das unerlaubte Fotografieren unter den Rock, oder das „Downblousing“, Fotografien in den Ausschnitt, unter Strafe gestellt werden. Konkret werden im Gesetz Aufnahmen von Genitalien, dem Gesäß oder der weiblichen Brust genannt, auch wenn diese von Unterwäsche bedeckt sind. Darauf steht eine Geld- oder eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren.

Allerdings: Wer über die Unterwäsche hinaus bekleidet ist, also etwa einen Pullover oder einen Rock trägt – diese also „gegen Anblick“ schützt –, muss sich Fotos gefallen lassen, sofern nicht gezielt unter jene Oberbekleidung fotografiert wird. Filmt der Mann im Wald also die bekleidete Joggerin, ist das aktuell keine Straftat.

Gentsch will das ändern und richtet sich mit einer Petition an Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD). „Heimliches, sexuell motiviertes Filmen muss strafbar sein – egal, ob mit oder ohne nackte Haut“, heißt es im Petitionstext. Voyeur-Aufnahmen sollten gänzlich strafbar sein, der Paragraf 184k solle entsprechend erweitert werden.

Bisher haben mehr als 81.000 Menschen ihre Unterschrift unter die Forderung gesetzt. „Ob im Freibad im Bikini oder beim Joggen mit enger Hose: Wir wollen uns sicher fühlen! Mit einem Gesetz im Hintergrund, das uns wirklich schützt“, schreibt Gentsch auf der Petitions-Website und hofft auf weitere Zustimmung.

Justizministerien wollen eine Gesetzesänderung prüfen

Nun erreicht die Petition die große Politik. Nordrhein-Westfalens Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) will das Vorhaben auf der kommenden Justizministerkonferenz auf die Tagesordnung setzen. „In Deutschland gibt es hunderte Straftatbestände und Ordnungswidrigkeiten, doch wenn es darum geht, das Selbstbestimmungsrecht von Frauen vor sexuell motivierten Fotoaufnahmen zu schützen, ist das nach dem Gesetz nicht einmal ein Knöllchen wert. Das ist nicht akzeptabel und schwer erträglich“, sagt Limbach WELT. „Die Kleidung einer Frau darf niemals ein Freifahrtschein sein, sie zum Objekt herabzuwürdigen.“

Das Recht müsse klare Grenzen ziehen, wenn Körperteile in sexueller Absicht und gegen den Willen der Betroffenen fotografiert oder gefilmt werden. „Wir brauchen dringend eine bessere gesetzliche Regelung, die diesen Schutz gewährleistet.“ Limbach wolle sich im Bund für einen neuen Straftatbestand einsetzen.

Auch das bayerische Staatsministerium der Justiz unter Georg Eisenreich (CSU) will prüfen, ob es gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt. Eisenreich setzte sich schon 2019 mit seinen Amtskollegen aus Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg für die Schaffung des entsprechenden Paragrafen ein. „Der Schutz von Persönlichkeitsrechten und des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung ist uns ein wichtiges Anliegen. Dies gilt insbesondere für den Schutz vor unbefugten Bildaufnahmen“, so eine Ministeriumssprecherin.

Die Umsetzung könnte allerdings nicht ganz trivial sein. Gentschs Erlebnisse zeigten die bestehenden rechtlichen Leerstellen auf, sagt Jörg Eisele, Strafrechtsprofessor an der Universität Tübingen. „Das Strafrecht tut sich bei solchen Belästigungsdelikten schwer. Der Täter sendet hier die Nachricht: Du kannst nichts machen, ich habe dich in der Hand“, so Eisele, der im Mai 2020 als Sachverständiger im Rechtsausschuss des Bundestags im Gesetzgebungsverfahren zum Paragraf 184k sprach.

Der „Upskirting“-Paragraf sei offenkundig zu eng gefasst. Die Reaktion im Wald sei entsprechend die einzige Möglichkeit, das unerwünschte Filmen zu verhindern. „Der Joggerin bleibt derzeit nur der Minimalschutz: Sie kann sich im Wege der Notwehr gegen die Fotografie wehren, da es ein Recht am eigenen Bild gibt. Jenes Recht am eigenen Bild ist bisher noch nicht ausreichend durch das Strafrecht geschützt.“

Selbst Nacktaufnahmen am FKK-Strand nicht strafbar

Eisele hält es für nachvollziehbar, wenn unter gewissen Voraussetzungen das unbefugte Filmen des Körpers künftig strafbar wäre – ob mit Hose bekleidet oder nicht. „Denkbar wäre: Der Schutz ‚gegen Anblick‘ wird im Gesetz gestrichen, um den Fall unter Strafe zu stellen.“ Notwendig wären laut Eisele dann allerdings auch weitere Strafrechtsverschärfungen: „Wenn man den Fall der Joggerin unter Strafe stellt, dann muss man unbefugte Nacktaufnahmen auch unter Strafe stellen.“ Denn: Wer sich heute nackt an einem FKK-Strand aufhalte, müsse Fotoaufnahmen laut geltendem Recht aushalten – die „Schutzvorrichtung“ der Kleidung nehme man nicht wahr.

Die mögliche Reform der Voyeur-Aufnahme werfe damit Folgefragen bei Alltagsaufnahmen auf, so Eisele. So könnte eine Frau künftig auf einem Foto mitfotografiert werden, wenn sie etwa vor einer Sehenswürdigkeit im öffentlichen Raum steht. Jenes Foto könnte dann technisch vergrößert, und entsprechende Körperstellen könnten ausgeschnitten werden. „Der Gesetzgeber muss sich eine Grundsatzfrage stellen: Was soll unter Strafe stehen, wenn Erwachsene ungewollt fotografiert werden?“

Auch Elisa Hoven, Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig, sieht sowohl Handlungs- als auch Diskussionsbedarf. „Der ‚Upskirting‘-Tatbestand hat ohne Zweifel Lücken, die geschlossen werden sollten. Etwa bei Nacktaufnahmen an öffentlichen Orten“, so Hoven, die ebenfalls als Sachverständige zum Thema im Bundestag sprach. „Ob der Straftatbestand aber so weit ausgedehnt werden kann, wie die Petition es fordert, müsste gründlich geprüft werden – auch mit Blick auf den im Strafrecht geltenden Bestimmtheitsgrundsatz.“ Letzterer besagt, dass Gesetze für Bürger klar und verständlich sein müssten. In Strafverfahren könne sich dann außerdem die Frage stellen, wie eine „sexuelle Motivation“ des Filmens überhaupt nachgewiesen werden könne, sagt Hoven WELT.

Der Mann aus dem Wald muss derzeit also nicht mit rechtlichen Konsequenzen rechnen. Es bleibt bei einer deutlichen Kritik von Gentsch. „Es ist schlimm genug als Frau auf dieser Welt“, sagte sie zu ihm, „und Sie sind einer von den Männern, der dazu führt, dass das so ist“.

Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über Gesundheitspolitik, die Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht. Er berichtet zudem regelmäßig über Strafprozesse und Kriminalität.

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