Von einem „neuen Kapitel in der Geschichte unseres geliebten Polens“ spricht Karol Nawrocki in einer Videobotschaft an die Menschen im Land. Einen Tag vor seiner Amtseinführung lädt der Mann, der von der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ins Rennen geschickt wurde, alle Polen dazu auf, mit ihm an den Feierlichkeiten am 6. August teilzuhaben.
Am Vormittag wird Sejm-Marschall Szymon Holownia, der Präsident des polnischen Parlaments, die Sitzung der Nationalversammlung eröffnen. In der Zusammenkunft beider Kammern des Parlaments, also Sejm und Senat, wird Nawrocki seinen Amtseid ablegen und daraufhin von Noch-Präsident Andrzej Duda in den Präsidentenpalast eingeführt werden. Spätestens, wenn er dann erstmals die Spitzen der polnischen Streitkräfte trifft, wird über diesem ganzen Zeremoniell der Zweifel hängen.
Am 1. Juni dieses Jahres konnte Nawrocki die Präsidentschaftswahlen gegen den Kandidaten der Bürgerplattform (PO), Rafal Trzaskowski, für sich entscheiden. Mit 50,9 zu 49,1 Prozent der Stimmen war das Ergebnis äußerst knapp. Doch obwohl es in einigen Wahllokalen Unregelmäßigkeiten gab, halten Beobachter es für ausgeschlossen, dass dadurch mehr als 350.000 Stimmen Nawrocki zugefallen sind.
Juristisch ist das Ergebnis indes anfechtbar. Denn bestätigt wurde es durch das Oberste Gericht in Warschau – was nach Wahlgängen in Polen üblich ist. Doch jene Kammer, die dafür verantwortlich zeichnet, wurde im Zuge des Justizumbaus der PiS geschaffen und ist nach europäischer Rechtsprechung gar kein rechtmäßiges Organ.
Teile des Regierungslagers von Premierminister Donald Tusk (PO) haben denn auch die Legitimität der Wahl Nawrockis angezweifelt. Auch wenn nicht damit zu rechnen ist, dass es während der Vereidigung zum Eklat kommt, steht die Wahl Nawrockis für das staatsrechtliche Chaos, das seit 2015 in Polen herrscht und dem auch Tusk seit der Übernahme der Regierungsgeschäfte im Dezember 2023 nicht Herr werden konnte.
Dudas Erbe
Ermöglicht hat dies ausgerechnet Andrzej Duda, Nawrockis Vorgänger, der nach zwei Amtszeiten nicht noch einmal kandidieren konnte und ihn im Wahlkampf unterstützte. Der polnische Präsident soll parteipolitisch neutral auftreten, Duda allerdings hat stets Politik im Sinne der PiS gemacht. Es schien häufig so, als habe er Gesetze für PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski persönlich unterzeichnet. Abwertend wurde er in Polen daher oft „Kaczynskis Kugelschreiber“ genannt.
Als er sich vor zehn Jahren weigerte, drei bereits vom Parlament gewählte Verfassungsrichter zu bestätigen und die Posten stattdessen mit PiS-Loyalisten besetzt wurden, setzte Duda den Startschuss für die sogenannte Justizreform. Gilt der römische Rechtsgrundsatz, dass aus Unrecht kein Recht entstehen kann, dann war das die Ursünde des Justizumbaus.
Duda hat es mithin nicht dabei belassen, vielmehr hat er die Zerstörung des Rechtsstaats aktiv vorangetrieben: dass Personal in großem Umfang ausgetauscht wurde, dass „Neo-Richter“ anfangen konnten, Urteile zu fällen, die bis heute angezweifelt werden dürfen, dass neue Kammern und ein Disziplinarsystem für politisch unliebsame Richter geschaffen wurden und dass letztlich gar das Verfassungsgericht europäisches Recht grundsätzlich für nichtig erklärt hat, hat Duda ermöglicht.
Er war es, der Polens Justiz aus der europäischen Rechtsgemeinschaft gedrängt und die Souveränität des polnischen Staates dauerhaft geschwächt hat. Vertragsverletzungsverfahren und Strafgelder sowie der Dauerkonflikt zwischen der polnischen Regierung auf der einen und der EU-Kommission und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) auf der anderen Seite haben ihn nicht umdenken lassen.
Trotz einiger zaghafter Versuche konnte Duda sich nie wirklich von Parteichef Kaczynski emanzipieren, auch wenn er gelegentlich Gesetzesinitiativen der PiS nicht unterstützte. Entscheidender ist, dass er seit 2023 die Reformpolitik Tusks vor allem mit seinem Veto blockiert hat und so eine „Redemokratisierung“ der Justiz verhindern konnte.
Das ist Dudas Erbe – und es steht zu erwarten, dass Nawrocki ebenfalls so handeln wird. Einige Beobachter gehen sogar davon aus, dass der neue Präsident eine noch konfrontativere Politik gegenüber der Regierung fahren wird. Das ist der Grund für die Krise im Regierungslager, in dem einige nicht mehr damit rechnen, dass Tusk in der laufenden Amtszeit handlungsfähig sein wird.
Duda liebäugelt mit hohem Amt
Duda hat derweil durchblicken lassen, dass er nicht vorhabe, in Rente zu gehen. Dem gerade mal 53-Jährigen wird nachgesagt, ein hohes Amt in einer internationalen Organisation anzustreben. Lange war das aufgrund seiner Rolle beim Justizumbau ausgeschlossen.
Doch Duda hat einen prominenten Fürsprecher, der sich Gerüchten zufolge für ihn stark machen könnte: US-Präsident Donald Trump. Die beiden unterhalten bis heute eine verhältnismäßig gute Beziehung. In der ersten Amtszeit Trumps von 2017 bis 2021 zählte Duda zu den wenigen europäischen Spitzenpolitikern mit einem direkten Zugang ins Weiße Haus. Seine US-Politik steht exemplarisch für Dudas gemischte Bilanz.
Der polnische Präsident teilt sich die Exekutivgewalt mit der Regierung. Da er laut der Verfassung Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist, kommt seinem Amt eine besondere Rolle zu. Darum wissend machte Duda die US-Politik früh zu seinem Schwerpunkt und trug maßgeblich zu einer Verstärkung der amerikanischen Militärpräsenz in Ostmitteleuropa bei – während er zugleich, zumindest rhetorisch, gegen die EU und auch Deutschland austeilte.
Wegen seiner Nähe zu Trump hatte Duda schließlich Startschwierigkeiten mit dessen Nachfolger Joe Biden, die er jedoch nach einiger Zeit überwinden konnte. Ab 2022 spielte er international eine prägende Rolle bei der Unterstützung der von Russland überfallenen Ukraine.
Er inszenierte sich stellenweise als Antreiber bei Waffenlieferungen. Zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj unterhielt Duda schon vor 2022 ein freundschaftliches Verhältnis, ihre Männerfreundschaft zelebrierten beide Männer nach Kriegsbeginn dann auch öffentlich. Duda sprach 2022 vor dem ukrainischen Parlament, reiste häufig in die Ukraine und fand die richtigen Worte für das angegriffene Land, aber auch die Menschen zu Hause – was seine Beliebtheit sowohl in der Ukraine als auch in Polen steigerte.
Die polnische Radiojournalistin Karolina Lewicka bezeichnete Duda dagegen als gleichsam „lächerliche wie schreckliche Figur“. Das ließe sich mit dessen Rolle beim Justizumbau, seinem auch auf internationalem Parkett bisweilen unangemessenem Lächeln und seiner Abhängigkeit von Kaczynski erklären. Doch ignoriert diese Einordnung, dass Duda bereits ein entschiedener Unterstützer der Ukraine war, als andernorts in Europa noch über das Für und Wider von Waffenlieferungen diskutiert wurde.
Auch war Duda trotz der teilweise von ihm forcierten Spaltung der polnischen Gesellschaft im eigenen Land ein beliebter Präsident. Nicht nur zählt er zu den wenigen Staatschefs, die wiedergewählt wurden, er scheidet auch als jener Politiker aus dem Amt, der in Polen dem staatlichen Meinungsforschungsinstitut CBOS zufolge das meiste Vertrauen in der Bevölkerung genießt.
Denkbar ist deswegen, dass Duda eine Position im rechten Parteienspektrum anstrebt. PiS-Chef Kaczynski, seit den 90er-Jahren die dominierende Gestalt in der polnischen Politik, ist 76 Jahre alt. Wenn er einmal zurücktritt, könnte der Weg für Duda frei werden.
Selbst eine Übernahme des Amts des Premierministers ist nicht auszuschließen. Sein Ausscheiden aus dem Präsidentenamt ist für Duda womöglich nur ein politischer Abschied auf Zeit.
Philipp Fritz ist seit 2018 freier Auslandskorrespondent für WELT und WELT AM SONNTAG. Er berichtet vor allem aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei sowie aus den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit rechtsstaatlichen und sicherheitspolitischen Fragen, aber auch mit dem schwierigen deutsch-polnischen Verhältnis.
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