Über Parteigrenzen hinweg hatte Bundestagsvizepräsident Bodo Ramelow (Linke) in der vergangenen Woche für Empörung gesorgt. Er hatte in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ gesagt, er singe die Nationalhymne „mit Begeisterung“, würde aber „gerne die Kinderhymne von Bertolt Brecht zur Abstimmung stellen“. Gleiches gelte für „unsere Flagge“, die eine „Absage an totalitäre Strukturen“ sei, mit der aber „viele fremdeln“ würden.
„Die Nationalhymne ist fantastisch, großartig, die Flagge möge wehen auf ewig“, sagte Ramelows Grünen-Amtskollege Omid Nouripour. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann warf dem Linke-Politiker vor, einen „Kulturkampf“ anzuzetteln. Sein CSU-Amtskollege Martin Huber erläuterte gar, Ramelow sei für sein Amt ungeeignet. „Wir sollten uns besser um Dinge kümmern, die uns zusammenführen und nicht trennen“, sagte die Ostbeauftragte der Bundesregierung, Elisabeth Kaiser (SPD). Und AfD-Parteivize Stephan Brandner sprach von einem „überflüssigen Sommerloch-Gerede“. Es lohne sich, „Schwarz-Rot-Gold zu verteidigen“, stellte Ramelow nach der Kritik klar.
Aus der AfD-Bundestagsfraktion kommt nun ebenfalls ein Vorschlag, der als Änderung der Nationalhymne verstanden werden kann. Bekanntlich beinhaltet diese aktuell lediglich die dritte Strophe des „Liedes der Deutschen“ von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben.
Der bayerische AfD-Bundestagsabgeordnete Tobias Teich postete am Samstag: „Zurück zum Lied der Deutschen!“. Hoffmann von Fallersleben habe „unser Land, unsere Menschen, unsere Einigkeit und Treue“ besungen, heißt es in Teichs Beitrag. „Werte, die uns bis heute tragen. Und doch singen wir heute nur noch eine Strophe, als würden wir uns vor unserer eigenen Geschichte fürchten.“ Und: „Was wir brauchen, ist der Mut, zu unserer Geschichte zu stehen und die Kraft, unsere Einheit zu bewahren.“
Teich sagte WELT: „Eine souveräne Nation bekennt sich zu ihren Symbolen, ohne Angst und ohne Verkleinerung.“ Die dritte Strophe bleibe die offizielle Hymne. „Die ersten beiden Strophen gehören zu unserem kulturellen Erbe und stehen für eine lange Geschichte, die nicht durch eine kurze, wenn auch schreckliche Zeitspanne bestimmt werden darf.“
In der ersten Strophe des „Deutschlandliedes“ heißt es: „Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt – Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!“ Von den genannten Grenzmarken gehören heute keine zu Deutschland. Die Maas verläuft in Frankreich, Belgien und der Niederlande, die Memel in Russland und Litauen, die Etsch in Italien und der Belt in Dänemark.
Schon zum Entstehungszeitpunkt im Jahr 1841 handelte es sich nicht um eine exakte Beschreibung der Reichsgrenzen, sondern um ein patriotisch-romantisierendes Wunschbild. Der Deutsche Bund war damals ein Flickenteppich aus Kleinstaaten. Der Dichter wollte mit der genannten Strophe eine Kritik der deutschen Vielstaaterei und eine Sehnsucht nach einem vereinigten Nationalstaat zum Ausdruck bringen. Im damaligen Kontext war das nicht imperialistisch gemeint.
In der Weimarer Republik erklärte Reichspräsident Friedrich Ebert von der SPD das gesamte Lied der Deutschen im Jahr 1922 zur Nationalhymne. Rechte nutzten die erste Strophe nach dem Verlust von Gebieten infolge des Ersten Weltkriegs für Nationalismus und Revanchismus und deuteten „Deutschland über alles“ zu „Deutschland muss über andere Länder herrschen“ sowie als Ausdruck deutscher Überlegenheit um.
Die Nationalsozialisten bauten dann nach der Machtübernahme im Jahr 1933 eine neue Hymne auf: Seitdem wurde nur noch die erste Strophe des Liedes gesungen, anschließend die Parteihymne der NSDAP, das Horst-Wessel-Lied. Die erste Strophe wird seitdem stark mit nationalsozialistischer Propaganda und aggressivem Nationalismus verbunden. Das Singen ist gleichwohl nicht verboten.
1952 entschieden Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) und Bundespräsident Theodor Heuss, dass bei offiziellen Anlässen lediglich die dritte Strophe („Einigkeit und Recht und Freiheit“) gesungen werden soll, die demokratische Grundprinzipien betont und nicht vom Missbrauch der Nationalsozialisten belastet war. Die Entscheidung war auch eine Konsequenz aus dem Großmachtstreben und den daraus folgenden NS-Verbrechen. Nach der Wiedervereinigung legten CDU-Kanzler Helmut Kohl und Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Jahr 1991 offiziell fest, dass die deutsche Nationalhymne ausschließlich aus der dritten Strophe besteht.
„Tradition des rechtsextremen Geschichtsrevisionismus“
„Heute wird die erste Strophe des Deutschlandliedes insbesondere von Rechtsextremisten als Kampflied und zu Provokationszwecken genutzt“, heißt es im bayerischen Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2019. Im Jahr 2005 war das Lied in allen drei Strophen etwa Teil der sogenannten Schulhof-CD der Neonazi-Partei NPD.
Heike Radvan, Professorin für Rechtsextremismus-Forschung an der Universität Tübingen, sagt WELT: „Der AfD-Abgeordnete Tobias Teich stellt sich mit seiner Forderung in eine lange Tradition des rechtsextremen Geschichtsrevisionismus, der die NS-Verbrechen beschweigt, positivierend umdeutet und Gebiete zurückfordert, die infolge der Kriegsverbrechen des NS-Staates seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vertraglich zu den Nachbarstaaten gehören.“ Die erste Strophe sei „deutlich nationalistisch konnotiert“, sagte Radvan weiter. „Wer die Nationalhymne um diese Zeilen ergänzen will, fordert einen ‚Schlussstrich‘ unter die nach wie vor notwendige Auseinandersetzung um die NS-Verbrechen. Dies widerspricht demokratischen Vorstellungen.“
Teich weist dies zurück. „Die deutsche Geschichte ist länger als zwölf Jahre“, sagt er. „Ist es nicht geradezu pathologisch, eine jahrhundertealte Kulturgeschichte auf diese kurze Epoche zu verkürzen? Erinnerung ist notwendig, aber sie darf nicht den gesamten Blick auf unsere identitätsstiftenden eigenen Symbole und Traditionen verstellen.“
Der 41-Jährige äußert sich auch zum vorläufigen Verbot des „Liedes der Deutschen“ nach 1945 in der amerikanischen Besatzungszone. Als Teil der „Entnazifizierung“ verboten die Alliierten alle nationalen Symbole NS-Deutschlands, die Amerikaner setzten auch ein Verbot des Deutschlandliedes durch. „Dass eine fremde Macht das Lied der Deutschen untersagte, war ein Eingriff in die deutsche Identität“, behauptet er. „Heute ist genau diese Tatsache eines von vielen Argumenten, das Lied als Symbol deutscher Souveränität zu begreifen.“
Die AfD-Bundestagsfraktion möchte sich das Posting ihres Abgeordneten nicht zu eigen machen. „Bei den Aussagen von Herrn Teich handelt es sich um eine persönliche Meinung“, sagte ein Sprecher der Fraktion WELT. „Deutsche Nationalhymne ist die dritte Strophe des Liedes der Deutschen. Daran möchte die AfD-Fraktion nichts ändern.“
Es ist nicht das erste Mal, dass Teile der AfD mit einem Bezug auf die erste Strophe des Deutschlandliedes auffallen. Im August 2016 postete der Thüringer Landesvorsitzende Björn Höcke auf Facebook den gesamten Text. „Sehnsuchtslied der Vergangenheit – Freiheitslied der Gegenwart“, schrieb er dazu. „Ja, es ist schon beachtlich, welche Ausdehnung der Deutsche Bund als lockere Organisationsform deutschsprachiger Länder damals hatte.“
Im Mai 2019 wurden dann beim „Süddeutschen Treffen“ der völkisch-nationalistischen AfD-Gruppierung „Der Flügel“ alle drei Strophen abgespielt. Höcke sang stellenweise mit und sprach im Anschluss von einem „Fauxpas“. Die CSU-Politikerin und bayerische Landtagspräsidentin Ilse Aigner übte damals scharfe Kritik: „Wer heute bewusst die erste Strophe singt, verhöhnt die Opfer des Nationalsozialismus und macht sich mit den Tätern gemein.“ Sie verbinde solche Bilder und Töne in erster Linie mit Auftritten von Neonazis.
Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Im September erscheint im Herder-Verlag sein Buch über den AfD-Politiker Björn Höcke. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.