Für den US-Präsidenten Donald Trump ist Indien ein Problemland, für den deutschen Außenminister Johann Wadephul ein „strategischer Partner“. Seit einigen Tagen werden viele indische Exporte in die USA mit einem 50-prozentigem Zoll belegt. Indiens massive Importe von russischem Erdöl im Wert von rund drei Milliarden Dollar pro Monat unterminierten „US-Bemühungen, Russlands schädlichen Aktivitäten entgegenzutreten“, hieß es aus dem Weißen Haus. Mehr russische Energie als Indien kauft nur China. Beide Länder finanzieren so indirekt Wladimir Putins Ukraine-Krieg.

Während Trumps Umfeld ständig neue Kritik an Indien äußert, schwärmt Wadephul für das Land. Heute reist der deutsche Außenminister nach Indien. Das Land sei für Deutschland „ein in jeglicher Hinsicht strategischer Partner im Indopazifik und zentral im System globaler Partnerschaften“, sagte Wadephul vor der Abreise.

Man wolle die Beziehungen in der gesamten Bandbreite weiter vertiefen. Um die Wirtschaftsbeziehungen auf die nächste Stufe zu heben, solle das geplante Freihandelsabkommen zwischen Indien und der EU „so schnell wie möglich“ abgeschlossen werden, sagte Wadephul. Indien sei eine aufstrebende Wirtschaftsmacht und biete deutschen Unternehmen große Chancen bei Innovation.

Donald Trumps Außenpolitik kommt in Indien nicht gut an. Es geht nicht nur um seine Zölle, wodurch laut Indiens Regierung Exporte im Wert von bis zu 50 Milliarden Dollar jährlich in Gefahr sind, sondern auch um sein Taktieren im Grenzkonflikt Indiens mit Pakistan. Nach den schweren Kämpfen im Mai wertete Indien Trumps Intervention als eine Parteinahme für den Erzrivalen Pakistan. Die Abkühlung der indisch-amerikanischen Beziehungen hinterlässt Lücken, die nun die Chinesen und die Europäer füllen wollen.

Die EU hat aus Indiens Sicht dabei ein Glaubwürdigkeitsproblem: Von Strafzöllen nach Trumps Vorbild wollen die Europäer zwar nichts wissen, aber sie setzen Indiens ölverarbeitende Industrie zunehmend unter Druck.

Drei Jahre lang durften Indiens Raffinerien uneingeschränkt Diesel, Benzin und Kerosin aus russischem Erdöl verkaufen, vor allem nach Europa – ein Milliardenmarkt. Nun stehen diese Exporte wegen des 18. EU-Sanktionspakets gegen Russland auf der Kippe. Darin wurde ein Einfuhrverbot für raffinierte Ölerzeugnisse aus russischem Rohöl beschlossen. Indien dürften so Gewinne entgehen, aber nicht im gleichen Maße wie durch Trumps Zollhammer.

Auf Energie-Importe aus Russland will Indiens Premier Modi nicht verzichten. „Ich bin bereit, Indien ist bereit“, sagte Modi vor wenigen Wochen. Nicht zuletzt das günstige russische Erdöl befeuert Indiens Wirtschaft, die derzeit so schnell wächst wie keine andere der Welt. Zwischen April und Juni wuchs Indiens Bruttoinlandsprodukt um 7,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und übertraf Prognosen. In diesem Jahr könnte Indiens Wirtschaft laut einer Prognose der Bank of America um 6,5 Prozent wachsen.

Laut der Investmentbank Morgan Stanley dürfte Indien auch im kommenden Jahr wirtschaftlich so schnell zulegen wie kein anderes Land. Die Beratungsfirma Ernst & Young sagt voraus, Indien könnte im kommenden Jahrzehnt zur zweitgrößten Weltwirtschaft hinter China avancieren.

Zum Vergleich: Die heutige zweitgrößte Weltwirtschaft China wuchs im vergangenen Jahr nach offiziellen Angaben um fünf Prozent. Chinas Wirtschaftsstatistiken gelten als unzuverlässig, das reale Wachstum könnte also deutlich niedriger liegen. Chinas Ökonomie wurde zum Opfer des eigenen Erfolgs: Die Preiskriege in der Solar- und die E-Auto-Branche und die anhaltende Immobilienkrise trüben die Aussichten. Dazu tragen auch die Folgen der Ein-Kind-Politik und die Überalterung der Bevölkerung bei. Das Medianalter der indischen Bevölkerung liegt mit knapp 29 Jahren zehn Jahre unter dem Chinas. Indien, so scheint es, ist ein Land, in dem ökonomisch noch alles offen ist.

Eiszeit mit China geht zu Ende

Während Wadephul nach Indien reist, bemüht sich Modi um Chinas Herrscher Xi Jinping. Er reist zum Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit nach Tianjin. Die Tatsache, dass China Indiens Widersacher Pakistan aufrüstet, gerät angesichts der von Trump ausgelösten Krisensituation in den Hintergrund. Fünf Jahre Eiszeit nach dem indisch-chinesischen Grenzkonflikt scheinen nun zu Ende zu gehen. Modi wird in China zwar keinen Pakt mit Xi eingehen, dazu ist Indiens Tradition der diversifizierten und blockfreien Außenpolitik zu stark.

Chinesische Investitionen, die Indien seit fünf Jahren weitgehend blockiert, dürften allerdings wieder möglich werden. Hier muss Indien allerdings eine Balance finden. Trotz der geopolitischen Streitigkeiten mit China wächst Indiens Abhängigkeit von dem großen nördlichen Nachbarn. Indiens Handelsbilanz mit China ist negativ, die Importe aus China übertrafen die Exporte zuletzt um das Achtfache. 70 Prozent der Vorläufer-Chemikalien für Indiens große Pharmaindustrie stammen aus China, genau wie elektronische Komponenten für Smartphones wie das iPhone, die zunehmend in Indien produziert werden.

Hier bietet sich eine Chance für die Europäer, sich Indien gegenüber als ökonomisches und geopolitisches Gegengewicht zu China aufzubauen. Bislang war die Europäische Union vor den USA der zweitgrößte Handelspartner Indiens. Mehr Handel mit Indien betrieben dank massiver Energie-Exporte nur die Länder des Golf-Kooperationsrates.

Mit Trumps Zöllen und Modis Neujustierung der indischen Handels- und Außenpolitik dürften die Amerikaner an Bedeutung verlieren. Wenn das lange geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien in diesem Jahr tatsächlich Realität wird, bekäme Indien eine gute Gelegenheit, die Verluste der Trump-Sanktionen zu kompensieren – und die EU könnte im Gegenzug ihren Einfluss in Asien ausbauen.

Pavel Lokshin ist Russland-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2017 über Russland, die Ukraine und den postsowjetischen Raum.

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