Wenn es jetzt dunkel und kalt wird, mögen Klara, 14, und Theo Hensel, 12, nicht nach draußen gehen. Wie ihr Vater erzählt, sehen die Geschwister dann schwarz gekleidete Menschen, die in Schals eingepackt sind und Mützen tragen – und das erinnere sie an die maskierten Männer, die sie in der Silvesternacht 2023/2024 von der Straße im dänischen Gråsten griffen, fesselten und nach Deutschland verschleppten.
„Sie haben Albträume, können nicht bei geschlossener Tür schlafen und haben Angst, dass so etwas wieder passieren würde“, sagt ihr Vater Stephan Hensel am Montag vor Gericht. Er nimmt am Verfahren, das sich hauptsächlich gegen seine Ex-Frau Christina Block als mutmaßliche Auftraggeberin der Entführung richtet, als Nebenkläger teil.
Im Saal 237 des Landgerichts – ein mit einer Stahltür besonders gesicherter Raum, in dem sonst Verfahren gegen besonders gefährliche Kriminelle geführt werden – gibt der Vater Einblicke in ein Familienleben, das von „Angst“ geprägt sei. „Die Kinder haben andere Namen in der Schule. Die Handys haben wir ausgetauscht, wir haben keine Social-Media-Profile, zahlen nur mit Bargeld, um nicht verfolgbar zu sein“, sagt Hensel. Einen Arzt suchten sie nur in benachbarten Orten auf. Wo genau sie in Dänemark leben, ist nicht bekannt. Ein Leben wie in einem Zeugenschutzprogramm.
Was übertrieben klingen mag, hat natürlich seinen Hintergrund in besagter Entführung der Kinder. Sie lebten seit August 2021 bei ihrem Vater und wollten nicht zu ihrer Mutter zurück, der sie vorwerfen, gewalttätig zu sein. Daraufhin entschied Hensel, die Kinder gemäß ihrem Wunsch nicht mehr der Mutter zu übergeben, obwohl diese drei Monate später einen entsprechenden Beschluss beim Oberlandesgericht in Hamburg erwirkte. Weil dieser Gerichtsbeschluss aber wegen der dänischen Zuständigkeit nicht vollstreckbar war, war die Mutter zwar im Recht – und stand doch mit leeren Händen da. So soll sie nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft selbst tätig geworden sein.
Christina Block streitet jede Beteiligung an dem Kommandounternehmen, das israelische Mitarbeiter eines Sicherheitsunternehmens durchführten, zurück. Wenige Tage nach der Entführung sprach dasselbe Oberlandesgericht dem Vater das alleinige Sorgerecht zu.
An diesem Verhandlungstag soll es nun darum gehen, ob die Entführung Folgen für die Kinder hatte. Hensel antwortet auf die Fragen von Richterin Isabel Hildebrandt, berichtet vom getarnten Leben in Dänemark. Dann darf Block-Verteidiger Ingo Bott Fragen stellen – und schnell wird klar, wohin die Reise gehen soll.
Denn Bott bemüht sich, die Glaubwürdigkeit des Zeugen infrage zu stellen. Er erkundigt sich nach Streitpunkten aus dem Sorgerechtsverfahren, dessen Akte tausende Seiten füllen soll, will etwa wissen, welche Rolle der familiäre Schokoladenkonsum bei Hensel gespielt habe.
Was genau er damit herausfinden oder beweisen will, bleibt unklar, denn Richterin Hildebrandt stoppt den anwaltlichen Ausflug ins Süßigkeitenregal der Gegenseite sofort: „Wir arbeiten hier kein familiengerichtliches Verfahren auf, bitte lassen Sie das nicht ausufern, sondern fragen nur zum anklagegegenständlichen Verfahren“, bescheidet sie Bott.
Der muss nach jedem Zipfel greifen, das ist sein Job. Er muss Hensel als gekränkten, manipulativen Vater herausstellen, der seine Kinder gegen die Mutter aufhetze, weil der Hass auf die Ex-Frau ihn im Griff habe. Er fragt nach einem sogenannten Zähneputz-Spiel, bei dem die Kinder beim abendlichen Zähneputzen wechselseitig etwas Schlechtes über die Mutter gesagt hätten. Wem nichts mehr eingefallen sei, habe das Spiel verloren. Der Vater sagt, davon wisse er nichts.
Hensel muss in der Darstellung der Verteidigung derjenige sein, der das unselige Geschehen – das seine Mandantin natürlich nicht zu verantworten habe – in Gang brachte, weil er die Kinder in eine Art Geiselhaft nahm.
„Ich lass’ mich hier nicht vorführen“, sagt der Vater
Und auf der Gegenseite läuft die andere Seite der Platte. Da ist es die Mutter, die Geld und Macht zusammen nimmt und sich eine Entführerbande aus ehemaligen Geheimdienstagenten zusammenkauft, die ihr zu ihrem Recht verhilft, ohne Rücksicht auf die Kinder zu nehmen.
In dieser Bescheidenheits-Wüste, in der jeder meint, der Leibhaftige säße auf der anderen Seite des Saales, kommen dann Details aus dem Sorgerechtsverfahren ans Tageslicht, die die ganze Tristesse des Falles beleuchten.
Wer hat wann welche Gewaltvorwürfe erhoben, angezeigt, mitgeteilt. Was haben die Kinder genau wem gesagt? Wann war das? Vor der Silvesternacht oder danach? So geht es in einem fort: der Versuch des Beweises, dass Hensel nicht die Wahrheit sage.
Und der berichtet wiederum, wie die Kinder einmal ungewaschen, nämlich „stinkend und mit fettigen Haaren in den alten Kleidern“, von einem Wochenende in Hamburg zu ihm nach Dänemark zurückgekehrt seien – so vernachlässigend sei die Mutter mit den beiden umgegangen. Wer will das nachprüfen? Und wem nützt es?
„Ich lass’ mich hier nicht vorführen“, sagt der Vater am Ende des Prozesstags. „Das Jugendamt hat nicht geholfen. Die Staatsanwaltschaft hat nicht geholfen. Darum will Klara hier aussagen, damit ihr endlich jemand zuhört.“
Einen festen Termin für die Einvernahme seiner Tochter gibt es noch nicht. Ob sie etwas sagen wird, das die „Wahrheit“ ist?
Chefreporter Per Hinrichs schreibt über Kriminalität, Justiz und weitere Gesellschaftsthemen.
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