Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Mittwochmorgen vor der UN-Generalversammlung trat, war seine Machtposition eine völlig andere als nur zwölf Stunden zuvor. Unmittelbar nach seinem Treffen mit US-Präsident Donald Trump am Dienstagnachmittag verkündete dieser nämlich eine Kehrtwende der amerikanischen Ukraine-Politik. Russland sei ein „Papier-Tiger“ und Kiew könne den Krieg gewinnen, schrieb Trump auf Truth Social.

Mit diesem Paukenschlag hat Trump, der Selenskyj noch vor einem halben Jahr vorhielt, „keine Karten“ zu haben, für den Moment dem russischen Narrativ eines unausweichlichen russischen Siegs eindeutig abgeschworen. Gestützt auf die überraschend deutliche Rückendeckung trat der ukrainische Präsident am Dienstag entsprechend selbstbewusst auf. Er formulierte deutliche Vorwürfe an die Weltgemeinschaft, die tags zuvor bereits Trump ausgesprochen hat.

Es ist das Gründungsziel der Vereinten Nationen, den „Weltfrieden zu wahren“. So steht es in der Charta, die vor 80 Jahren unterzeichnet wurde. Dass die Institution mit ihrer riesigen Zentrale am New Yorker East River bereits seit Jahren nicht mehr schafft, ist kein Geheimnis. Für Selenskyj bot sein Auftritt die perfekte Gelegenheit, dies schonungslos anzuprangern. Ohne große Einleitung geißelte er die faktische Irrelevanz des internationalen Rechts. „Es ist krank, aber das ist die Realität“, so der Ukrainer. Wer keine Waffen habe, könne nicht überleben.

Schuld daran seien die vor ihm versammelten Delegierten der Weltgemeinschaft. Schließlich seien sie gescheitert, die internationale Ordnung zu schützen. Das betreffe nicht nur sein Land. „Was können der Sudan, Somalia, Palästina oder jedes andere Volk, das einen Krieg erlebt, wirklich von den UN erwarten? Seit Jahrzehnten nur Worte“, rief Selenskyj.

Vor einem Jahr habe er die UN vor den russischen Angriffen auf das Atomkraftwerk in Saporischschja gewarnt und gebeten etwas zu unternehmen, dass Moskau die Kontrolle an die Ukraine zurückgibt. „Es ist nichts passiert.“

Selenskyj wiederholt Trumps Kritik an der UN

Damit wiederholte er die Kritik, die Donald Trump am Vortag äußerte. „Ich habe sieben Kriege beendet und nie auch nur einen Anruf von den Vereinten Nationen erhalten, in dem mir Hilfe bei der endgültigen Aushandlung der Abkommen angeboten wurde“, warf der US-Präsident den versammelten Politikern vor. „Alles, was ich bekommen habe, war eine kaputte Rolltreppe und einen schlechten Teleprompter.“

Wie gefährlich eine Zukunft aussehen würde, in der die Vereinten Nationen ihrer Kernaufgabe der Aufrechterhaltung des internationalen Rechts weiterhin nicht nachkommen, legte Selenskyj in seiner Rede ausführlich dar. „Es wird keinen Platz mehr auf der Welt geben, der sicher ist“, sagte er. Die Welt befinde sich in einem Rüstungswettlauf, den Putin begonnen habe und den es nun zu stoppen gelte, so Selenskyj. Was einst mal das Hoheitswissen mächtiger Staaten gewesen sei, wüssten nun tausende Menschen: „Wie man mit Drohnen tötet.“ Dafür sei Russland verantwortlich, so Selenskyj und schob hinterher: „Die Welt tut zu wenig, um sich dagegen zu schützen.“

Selenskyjs Selbstbewusstsein, mit dem er der Weltgemeinschaft die Leviten las, hat seinen Ursprung in seiner neuen Position. Fast trotzig stellte er klar, dass sein Land das Einzige ist, das einen Weg gefunden habe, sich in der neuen Art der Kriegsführung zu behaupten. „Wir wurden dazu gezwungen, um unser Recht auf Leben zu bewahren“, so Selenskyj. Kiew habe selbst Drohnen gebaut, um seine Städte zu verteidigen, seine Häfen zu schützen und gegen Russland zurückzuschlagen.

Zwar wünscht er sich ein entschlossenes Handeln der Weltgemeinschaft, doch als reiner Bittsteller will er nicht wahrgenommen werden. Schließlich ist die ukrainische Resilienz nun zu ihrer Stärke geworden. Selenskyj kündigte an, Beschränkungen gegen Waffenexporte aufzuheben. „Sie müssen dieses Wettrüsten nicht am Reißbrett beginnen“, sagte er den Delegierten und bot damit an, ukrainische Drohnentechnologie zu verkaufen.

Es ist diese Durchhaltefähigkeit der Ukraine, die Donald Trump am Dienstag anerkannte. „Er ist ein mutiger Mann und schlägt sich tapfer“, sagte er bei seinem Treffen mit Selenskyj und bezeichnete Kiews Verteidigungskampf als „ziemlich großartig“. Nur 33 Minuten nach dem rund einstündigen bilateralen Gespräch legte der US-Präsident auf Truth Social nach.

Erstmals attackierte er Moskau in harschen Tönen und sprach dem Land die Qualifikation als Militärmacht ab. In ungewohnter Deutlichkeit stellte er sich hinter die Ukraine und sagte, das Land sei in der Lage, seine Gebiete „und vielleicht mehr“ zurückzuerobern.

Eine Kurskorrektur, die im Kreml Panik und Verärgerung auslöste. Denn mit seinem Post hat Trump dem russischen Narrativ widersprochen, das er selbst schon oft verbreitet hat, dass die Ukraine diesen Krieg verlieren werde – und damit Selenskyj gestärkt. Es fiel zunächst dem russischen Ex-Präsidenten und Online-Provokateur Dmitri Medwedjew zu, das zu kritisieren. Der ukrainische Präsident habe Trump in eine „alternative Realität gelockt“, schrieb er auf Telegram.

Gregor Schwung berichtet seit 2025 als außenpolitischer Korrespondent über transatlantische Beziehungen, internationale Entwicklungen und geopolitische Umbrüche mit einem besonderen Schwerpunkt auf die Ukraine und die USA.

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