Die Frage, wie die Sozialausgaben in Europa künftig finanziert werden können, wird immer akuter. „Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar“, hat Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) erst vor kurzem erklärt. Auch in Frankreich wird in den Haushaltsdebatten betont, wie unverhältnismäßig hoch die Ausgaben im Sozialbereich sind.

Und sogar die sozialdemokratische Regierung von Keir Starmer in Großbritannien hat einen Gesetzentwurf verteidigt, der nach der parlamentarischen Überprüfung stark zusammengestrichen wurde und den Leistungsumfang staatlicher Sozialausgaben erheblich reduziert.

In Italien hat Ministerpräsidentin Giorgia Meloni Budgetkürzungen im Bereich der Gesundheitsversorgung durchgesetzt. Einer Erklärung des italienischen Rechnungshofs zufolge war die Finanzierung der Gesundheitsversorgung seit 17 Jahren im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt nicht mehr so niedrig angesetzt. Seit der Staatsschuldenkrise hat man außerdem das Renteneintrittsalter automatisch mit der Entwicklung der Lebenserwartung verbunden. Allerdings fordern die Gewerkschaften nun, das Rentenalter bei 67 Jahren einzufrieren.

Drei Dinge setzen die europäischen Regierungen unter Druck: die Kostenexplosion im Verteidigungssektor aufgrund des Ukraine-Krieges und des relativen Rückzugs der USA, das schwache Wirtschaftswachstum und der demografische Wandel. Laut den Prognosen von Eurostat wird 2060 ein Drittel der Bevölkerung der Europäischen Union älter als 65 Jahre sein – derzeit liegt der Anteil dieser Altersgruppe nur bei 20 Prozent.

Ex-Kanzlerin Angela Merkel erklärte schon vor ein paar Jahren in einem Interview mit der „Financial Times“, dass ihr diese Entwicklung Sorgen bereite. Europa stellt sieben Prozent der Weltbevölkerung, ein Viertel seiner Wirtschaftsleistung und die Hälfte der globalen Sozialausgaben, erklärte sie damals. Im Jahr 2023 beliefen sich die Ausgaben für Sozialleistungen in den Ländern der Europäischen Union durchschnittlich auf 26,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), in Frankreich waren es 31,5 Prozent des BIP, während es in den USA nur rund 14 Prozent waren.

Diese Sicherheitsnetze sorgen in Europa für extrem hohe Kosten. Sie wurden während der glorreichen dreißig Jahre konzipiert, in denen das Wirtschaftswachstum bei fünf Prozent lag. Laut den Erwartungen der Europäischen Zentralbank (EZB) dürfte dieses in diesem Jahr allerdings nur bei mageren 1,2 Prozent liegen. Und das ist mittlerweile das übliche langsame Tempo auf dem alten Kontinent.

Europas Wettbewerbsfähigkeit unter Druck

Die Ursache für den längst nur noch stotternden Motor ist wohlbekannt: Es ist der Mangel an Innovationen, der die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen ausbremst. Genau das ist auch das Thema des berühmten „Draghi-Berichts“, den der italienische Wirtschaftsfachmann EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor einem Jahr vorlegte. Seine Empfehlungen wurden bislang jedoch kaum umgesetzt.

Vor drei Wochen reiste Mario Draghi erneut nach Brüssel, um anlässlich des ersten Jahrestags seines Berichts ein Kolloquium abzuhalten. Dabei schlug er definitiv keinen leichten Ton an. „Die Grundlagen des europäischen Wachstums, der Ausweitung des Welthandels und der hochwertigen Exporte haben sich weiter abgeschwächt“, bedauert der ehemalige EZB-Präsident.

Er sorge sich vor allem um die Fähigkeit Europas, „seine Ambitionen in den Bereichen Klima, Digitalisierung und Sicherheit zu verwirklichen, ganz zu schweigen von der Finanzierung seiner immer älter werdenden Gesellschaften“. Angesichts dieser Überalterung, die bereits seit Jahren belegt ist, bricht den Wissenschaftlern in den Wirtschaftsministerien der kalte Schweiß aus. Laut den Erkenntnissen der Europäischen Kommission dürfte der Kontinent bis 2100 rund 57,4 Millionen Personen im arbeitsfähigen Alter verlieren.

Noch frappierender ist die Tatsache, dass die Abhängigkeitsquote der Europäischen Union, also das Verhältnis zwischen der Anzahl von Personen, die bereits aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sind, und der Personenzahl im arbeitsfähigen Alter, von derzeit 33 Prozent bis zum Jahrhundertwechsel auf 60 Prozent ansteigen wird. Unter diesen Bedingungen werden die Kosten für die Renten und die Gesundheitsversorgung praktisch explodieren und sich dabei auf eine sehr viel geringere Zahl von Erwerbstätigen konzentrieren.

Überalterung lässt Kosten explodieren

In Frankreich rechnet die Krankenversicherung mit einem starken Anstieg des Defizits bei der Sozialversicherung auf über 40 Milliarden Euro für 2030, und zwar vor allem aufgrund der immer häufiger auftretenden Langzeiterkrankungen. Bei Patienten mit schweren Erkrankungen wie Krebs werden sämtliche Kosten übernommen. Derzeit profitieren rund 20 Prozent der Bevölkerung von diesem Versicherungsangebot. Wenn man den Prognosen der Krankenversicherung Glauben schenken darf, wird es im Jahr 2035 um ein Viertel der Bevölkerung sein.

„Sämtliche Sozialstaaten stehen vor derselben Herausforderung durch die Überalterung, die die Kosten für Renten und Gesundheitsversorgung explodieren lässt“, meint Patrick Artus, Wirtschaftsberater beim Pariser Finanzinstitut Ossiam. „Was die Rente betrifft, so wissen wir im Grunde, was zu tun ist, auch wenn die entsprechenden Maßnahmen äußerst unpopulär sind: Wir müssen die Beschäftigungsrate durch eine Bildungsreform erhöhen und das Renteneintrittsalter erneut anheben. Sonst wird es sehr schwer sein, auf den Anstieg der Gesundheitskosten zu reagieren.“

Länder wie Spanien und Portugal stehen weniger unter Druck, da sie ihren Sozialstaat bereits drastisch reformiert haben, und zwar während der Staatsschuldenkrise vor zehn Jahren, als man sowohl die Renten als auch den Arbeitslosenschutz erheblich reduzierte. „Der demografische Wandel betrifft ganz Europa, wobei jedes Land seine eigene Logik befolgt“, erklärt Andreas Eisl, Wissenschaftler am Jacques-Delors-Zentrum in Berlin.

„Deutschland verfügt über einen gewissen finanziellen Spielraum, um seinen Sozialstaat zu finanzieren. Kanzler Merz verfolgt jedoch eine politische Strategie, die auf einer unter den Konservativen und darüber hinaus verbreiteten Vorstellung basiert, dass man den Sozialstaat reduzieren muss, um das auf Export basierende Wachstumsmodell wiederzubeleben. Die aktuellen Debatten erinnern in dieser Hinsicht vor allem an diejenigen vom Beginn der 2000er-Jahre.“ Das gilt auch für Frankreich, wo das Thema einer Reform des Sozialstaats heute noch ebenso tabu ist wie im Jahr 2000.

Dieser Text erschien zuerst in der französischen Zeitung „Le Figaro“, die wie WELT zur Leading European Newspaper Alliance (LENA) gehört. Aus dem Französischen übersetzt von Bettina Schneider.

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