Am vergangenen Samstag war es wieder so weit: Nach einwöchiger Pause hatte die marokkanische „GenZ 212“ zu Demonstrationen aufgerufen. So nennen sich die überwiegend jungen Protestler vor Ort, in Anlehnung an die marokkanische Ländervorwahl. In der Gesellschaft des nordafrikanischen Königreichs machen die unter 30-Jährigen den größten Teil der Bevölkerung aus. Überproportional häufig sind sie von Arbeitslosigkeit betroffen.

Doch die Teilnehmerzahl war geringer als noch vor einem Monat, als die Proteste begannen. Damals hatten Tausende junge Menschen in zahlreichen marokkanischen Städten „qualitativ hochwertige Bildung und angemessene Gesundheitsversorgung für alle“ gefordert. Außerdem riefen sie den marokkanischen Staat auf, in Krankenhäuser und Schulen zu investieren, statt Hunderte Millionen in den Bau von Fußballstadien zu stecken.

Marokko ist neben Spanien und Portugal das dritte Ausrichterland der Fußballweltmeisterschaft von 2030 und modernisiert daher sechs bestehende Fußballstadien. In der Nähe von Casablanca entsteht sogar das größte Stadion der Welt für 115.000 Zuschauer.

In den ersten Tagen waren es noch herausgeputzte junge Männer und Frauen ohne Kopftuch gewesen, die in schicken wie gefälschten Markenklamotten auf die Straße gegangen waren. Sie hatten sich über soziale Medien organisiert, in Anlehnung an die Proteste der Generation Z in Ländern wie Nepal, Madagaskar, Peru, Kenia oder den Philippinen.

Schon bald waren auch die Jugendlichen verarmter Großstadtvororte und ländlicher Gebiete hinzugekommen, mit wesentlich größerer sozialer Sprengkraft im Gepäck. Sie setzten Polizeiwagen in Brand, griffen Einkaufszentren an, plünderten Geschäfte und brannten Post- und Bankfilialen ab.

Die Bilder der Proteste gingen um die Welt. Fast waren sie apokalyptisch. Europäische Touristen in Marokko fragten sich, ob sie sich noch auf die Straße trauen konnten. Sogar Tote gab es: Sicherheitskräfte erschossen drei Demonstranten, die südlich von Agadir versucht hatten, eine Polizeiwache zu stürmen.

Angaben des Innenministeriums zufolge gab es 409 Verhaftete, die meisten davon minderjährig. 28 Demonstranten und 326 Sicherheitskräfte wurden verletzt, 271 Polizeiautos und 175 Privatwagen wurden beschädigt oder zerstört.

„Die öffentlichen Krankenhäuser sind wirklich skandalös schlecht“, schimpft Omar Alami, der erst vor einer Woche mit seiner Mutter in einer Klinik in Tanger war und in Wirklichkeit anders heißt. „Man muss sich buchstäblich auf die Suche nach einer Krankenschwester oder einem Arzt machen. Sonst geschieht nichts, absolut nichts“, erzählt der junge Bauingenieur verärgert.

„Niemand fühlt sich zuständig. Und wenn man dann noch die heruntergekommene, schlechte Ausstattung sieht, dann wird einem klar, dass man sich in so einer Einrichtung nicht behandeln lassen will.“ Omar fuhr mit seiner Mutter kurzerhand in ein privates Krankenhaus, in dem der Service und die medizinischen Geräte deutlich besser sind. Doch das kostet und ist nicht für jeden Marokkaner eine Option.

„Marokko hat in den vergangenen 20 Jahren erhebliche wirtschaftliche und soziale Fortschritte erzielt“, betont das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf seiner Webseite. „Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen hat sich zwischen 1990 und 2021 verdreifacht – und das, obwohl die Bevölkerung im gleichen Zeitraum um 50 Prozent gewachsen ist.“ Zudem habe sich die Armut deutlich reduziert, das Mindesteinkommen sei erneut gestiegen.

Die Gehälter sind trotzdem zu niedrig: Der Durchschnittsverdienst beträgt umgerechnet 300 Euro pro Monat, im landwirtschaftlichen Sektor sind nur etwa 210 Euro üblich. Eine Behandlung in gut ausgestatteten Privateinrichtungen können sich Arbeitnehmer so kaum leisten.

Ein Beispiel für den schlechten Zustand staatlicher Krankenhäuser sind die acht Frauen aus Agadir, die im Laufe der vergangenen Monate im öffentlichen Regionalkrankenhaus Hassan II. ihre Kinder mit Kaiserschnitt zur Welt gebracht hatten und danach plötzlich verstarben. Der Tod dieser Frauen war letztendlich der Auslöser für die Proteste der „GenZ 212“.

Der König fordert rasche Reformen

„Die Zerstörungen, die die Jugendlichen angerichtet haben, sind schrecklich und unverzeihlich“, sagt der schon in die Jahre gekommene Besitzer eines Lebensmittelladens im Zentrum von Tanger. Mehr als 80 Geschäfte und öffentliche Einrichtungen waren bei den Protesten zerstört oder beschädigt worden.

„Aber prinzipiell ist die Kritik der Protestler berechtigt“, gibt der Ladenbesitzer zu. Ein Kunde, der seinen Namen nicht nennen möchte, nickt zustimmend. „Man muss zugeben: Der Staat hat in den letzten 25 Jahren durchaus viel verändert. Aber es schadet nicht, wenn die jungen Leute der Obrigkeit klarmachen, dass noch mehr getan werden muss.“

Gleichzeitig betont er, dass die Proteste gegen die Fußball-WM unangebracht seien. Eine solche Großveranstaltung bringe schließlich wirtschaftliche Vorteile. „Ich kann mich noch gut daran erinnern, als vor über zehn Jahren gegen den Bau des Schnellzugs mit ähnlichen Argumenten wie heute gewettert wurde“, erzählt der 55-Jährige, der als Zahnarzt arbeitet. „Die Züge sind mittlerweile immer voll. Außerdem ist eine gute Infrastruktur Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum.“

Der Hochgeschwindigkeitszug von Tanger nach Casablanca war 2018 nach vierjähriger Bauzeit in Betrieb gegangen. Mittlerweile befördert er Berichten zufolge rund zehn Prozent aller Bahnreisenden Marokkos. Bis 2030 soll die Strecke nach Marrakesch ausgebaut werden, der Zug „El Boraq“ (zu Deutsch: der Blitz) soll dabei eine Geschwindigkeit von 350 Kilometern pro Stunde erreichen.

Die Bahnverbindung ist nur ein Teil eines weitergehenden Infrastrukturplans. Dazu gehören auch der Ausbau von Autobahnen und Schnellstraßen und die Vergrößerung des Containerhafens von Tanger. Der 2007 eröffnete Hafen ist mittlerweile der größte Containerhafen am Mittelmeer und das Herzstück der wirtschaftlichen Neuorientierung des Königreichs, dessen Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 4,7 Prozent anwuchs.

Doch trotz der Fortschritte ist die Lage für junge Menschen in Marokko weiterhin schwierig. Die Botschaft der Demonstranten scheint bei der „Obrigkeit“ in der Hauptstadt Rabat angekommen zu sein. Während der Demonstrationen hatte Premierminister Aziz Akhannouch bereits erklärt, die Regierung sei „bereit für Dialog und Diskussion“.

Am vergangenen Freitag forderte König Mohammed VI. in einer Rede vor dem Parlament rasche soziale Reformen. Konkret auf die Proteste ging er nicht ein. Danach kündigte die marokkanische Wirtschafts- und Finanzministerin Nadia Fettah Alaoui an, den kommenden Haushalt zugunsten des Gesundheits- und Bildungswesens zu überarbeiten. „Was wir aus den Protesten der Jugendlichen herausgehört haben, ist, dass sie bessere Bildung und Gesundheitsversorgung fordern“, sagte die Ministerin.

Im vorläufigen Haushalt für das kommende Jahr sind nun umgerechnet rund 12,5 Milliarden Euro für Gesundheit und Bildung sowie für die Schaffung von mehr als 27.000 neuen Arbeitsstellen in diesen Bereichen vorgesehen. Neue Krankenhäuser sollen gebaut und 90 weitere renoviert werden. Schwerpunkte sind zudem Bildungsreformen, die Stellenschaffung für junge Menschen und die Entwicklung benachteiligter ländlicher Gebiete.

Die Regierung bedachte bei ihren Reformen auch die acht Frauen, die im staatlichen Krankenhaus von Agadir beim Kaiserschnitt verstorben waren. Das Gesundheitsministerium hat nach internen Ermittlungen die zuständige Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Mehrere Krankenhausmitarbeiter wurden suspendiert, das über 50 Jahre alte Krankenhaus soll für 18 Millionen Euro renoviert werden.

Alfred Hackensberger hat seit 2009 aus mehr als einem Dutzend Kriegs- und Krisengebieten im Auftrag von WELT berichtet. Vorwiegend aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, wie Libyen, Syrien, dem Irak und Afghanistan, aber auch aus Bergkarabach und der Ukraine.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.