Für seinen kurzen Tanz hat sich Esteban Paulon eine ganz besondere Ecke in Buenos Aires ausgesucht. Die „Esquina Homero Manzi“ gilt als eine der historischen Tango-Locations der argentinischen Hauptstadt. Also gibt der LGBTQI-Aktivist an diesem frühlingshaften Donnerstagmorgen eine kurze Kostprobe seines tänzerischen Talents – sehr zur Freude der Passanten.

Ein Hauch von „früher war alles besser“ liegt in der Luft. Denn der Mann mit den kurzen grauen Haaren, der sich um einen Sitz im argentinischen Senat bewirbt, gehört jenem Lager an, das zum Widerstand gegen die „Grausamkeiten“ des libertären Präsidenten Javier Milei aufgerufen hat.

Als Zielgruppe hat er dessen „Opfer“ auserkoren. „Bewegung der Rentner und der Jugend“, steht auf seinen Plakaten. Tatsächlich leiden besonders die Senioren unter dem Sparkurs der argentinischen Regierung. Für Präsident Milei hat Tangotänzer Paulon nur Spott übrig: „Während sich die Menschen verschulden, um über die Runden zu kommen, stopfen sich die Freunde der Macht die Taschen mit Geld voll.“

Paulon hat Mileis wunden Punkt getroffen. Während die Armutsrate in den ersten beiden Jahren der Präsidentschaft von 52 auf rund 31 Prozent spürbar sank, der Staatshaushalt wieder schwarze Zahlen schreibt und Argentinien mit einer Wachstumsprognose von 4,3 Prozent in die Spitzengruppe der lateinamerikanischen Volkswirtschaften aufrückt, lassen Differenzen in Mileis Umfeld, Korruptionsvorwürfe und Ministerrücktritte die eigentlich ordentliche ökonomische Bilanz in den Hintergrund treten.

Am Sonntag stehen nun die Parlamentswahlen an. Gewählt werden mehr als die Hälfte der Sitze im Kongress und mehr als ein Drittel der Sitze im Senat. Und die dortigen Mehrheiten entscheiden darüber, welchen Kurs Argentiniens Politik in den kommenden zwei Jahren bis zur Präsidentschaftswahl nehmen wird.

Bislang ist Mileis immer noch junge libertäre Bewegung dort nur eine Splitterpartei, fehlende Mehrheiten haben dem Präsidenten zuletzt herbe Niederlagen bei Abstimmungen beschert. Doch nach der schweren Klatsche bei den Regionalwahlen in der bevölkerungsreichen Provinz Buenos Aires, ist der Kampfgeist des rechtslibertären Lagers neu erwacht. „Wir wollen nicht zurück in die Vergangenheit. Wir wollen diesen Reformkurs fortsetzen“, sagt Juan, Helfer an einem Wahlkampfstand, der seinen Nachnamen für sich behält.

Politikanalyst Cristian Buttie vom Umfrageinstitut CB Consultora sieht denn auch durchaus Chancen für die Libertären, als stärkste Kraft aus den Wahlen am Sonntag hervorzugehen. Es sei eine Mobilisierung jener Wähler zu beobachten, die einen Sieg der Opposition verhindern wollten, sagt er. Sie seien durch den Wahlsieg der Peronisten in der Provinz Buenos Aires aufgeschreckt worden.

Gut 200 Meter entfernt vom Wahlkampfstand der Libertären taucht eine gute alte Bekannte wieder auf: die Kettensäge. Sie war das Symbol des erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampfes von Javier Milei vor zwei Jahren. Inzwischen hat sie es auf die Plakate der Kommunistischen Partei geschafft. Deren Motto lautet nun „Motorsäge für die Reichen.“ Daneben wirbt die klassische Linke für mehr Frauen und Diversität in der Politik – mit Palästinenser-Fahne.

Noch einen Block weiter gibt es für Milei sogar Hausverbot. „Der Mann ist ein Lügner und Betrüger“, sagen die Arbeiter, die sich vor einer Werkstatt versammelt haben. Einer zeigt stolz ein entsprechendes Verbotsschild, dass die charakteristische Frisur des Präsidenten mit dem Zusatz „Zutritt verboten“ zeigt.

Auf den breiten Einkaufsstraßen in Buenos Aires ist die Nervosität dieser Tage besonders spürbar: Hier schallen die Rufe „Cambio, Cambio“ (zu Deutsch: Wechsel oder Wechselkurs) durch die Gassen. Und gerade der Wechselkurs war schon immer so etwas wie das argentinische Stimmungsbarometer. Die Landeswährung Peso wackelt angesichts der politischen Ungewissheit.

Die amerikanische Großbank Wells Fargo hat drei Szenarien für den Wahltag entwickelt: einen Sieg der Libertären, eine Niederlage Mileis und eine Art Unentschieden, das die beiden Lager zur Zusammenarbeit zwingen würde. Dass die Trump-Regierung Milei ihre Unterstützung zugesagt hat, sollten die Libertären am Sonntag nicht verlieren, lädt die Emotionen zusätzlich auf.

Die linksperonistische „Bewegung Evita“ lässt Plakate aufhängen, auf denen Milei und der US-Präsident zu sehen sind. Den Versuch, amerikanische Investoren für Argentinien zu gewinnen, sehen sie als Versuch, das „Vaterland zu verkaufen“. Argentinien, so sagen die Peronisten, würde zu einer Kolonie, die Ressourcen des Landes im Schlussverkauf geopfert.

Und dennoch: Die Stimmung in Argentinien hat sich verändert seit dem libertären Debakel bei den Provinzwahlen vor gut einem Monat. Denn dieses Mal geht es nicht darum, dem Präsidenten wegen verschiedener Korruptionsvorwürfe in seinem persönlichen Umfeld einen Denkzettel zu verpassen.

Nun geht es um die Grundsatzentscheidung, welchen Kurs das Land nehmen soll. Und so ruft Milei seinen Anhängern bei seiner Reise durch das Land immer wieder zu: „Entweder schreitet die Freiheit voran, oder Argentinien fällt wieder zurück.“

Mileis Libertäre haben für sich eine Art Mindestziel ausgerufen. Es gilt, ein Drittel der Sitze in der Nationalversammlung zu ergattern – denn dann verfügt der Präsident über eine Sperrminorität, seine Vetos könnten durch eine Zwei-Drittel-Mehrheit nicht mehr überstimmt werden.

Vorsorglich hat Milei eine Kabinettsumbildung angekündigt. Sie wird zwangsläufig den Weg zu mehr Konsens und weniger Kettensäge bahnen. Ein Neustart – und eine zweite Chance für Javier Milei.

Tobias Käufer ist Lateinamerika-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2009 über die Entwicklungen in der Region.

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