In der deutschen Nahostwissenschaft vollzieht sich eine Wende zum politischen Aktivismus – und gegen Israel. Der neue Vorstand der rund 1300 Mitglieder starken Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient (Davo) wendet sich laut Programmschrift gegen eigene „koloniale Denkmuster“, will den „Orientalismus überwinden“ und dem wichtigsten Verband des Bereichs einen neuen Namen geben. Wissenschaft dürfe nicht neutral sein, schreibt die seit September amtierende Vorsitzende Christine Binzel, Professorin für Volkswirtschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg-Erlangen. Man stelle sich „gegen Genozid und Völkermord, Kolonialismus und Rassismus“ und wolle „sichtbare Solidarität mit Palästina“ zeigen.
Was das bedeuten könnte, zeigen Binzels politische Einlassungen. Die Ökonomin fordert einen akademischen Boykott Israels. Die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit dortigen Institutionen, die sich „mitschuldig“ an Verbrechen wie „Besatzung, Apartheid und Genozid in Palästina“ gemacht hätten, müsse beendet werden, heißt es in der auch von ihr unterzeichneten europäischen Uppsala Declaration aus dem September dieses Jahres.
In einem offenen Brief an die Bundesregierung forderte Binzel im Juni die „sofortige Überprüfung aller diplomatischen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel“. Mit dem Gaza-Krieg unterstütze Deutschland die „Vernichtung und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung“ und damit „eines der größten Verbrechen unserer Zeit“. Neben Binzel trat Hanna Kienzler, Professorin für Global Health am King’s College London und ebenfalls im Davo-Vorstand, als Mit-Initiatorin auf.
Die antiisraelische Ausrichtung ist international bereits manifestiert. Der US-Dachverband Middle East Studies Association (Mesa) schloss sich 2022 der BDS-Bewegung an, die den jüdischen Staat durch Boykott isolieren will. 2019 beschloss auch die British Society for Middle Eastern Studies (Brismes) einen Boykott. Im selben Jahr verurteilte allerdings der Bundestag die „Argumentationsmuster und Methoden“ der BDS-Kampagne als antisemitisch.
Die neue Davo-Vize Hanna Al-Taher schreibt über den Hamas-Überfall auf Israel vom 7. Oktober 2023: „Gleitschirme über dem Grenzzaun von Gaza. Ein Bulldozer durchbricht den Grenzzaun, der Gaza umgibt. Die Symbolkraft dieser Bilder ist enorm: Ausbruch, Rückkehr, Freiheit.“ Ein Bulldozer, so die Politologin von der TU Dresden, der zuvor palästinensische Häuser zerstörte, habe den Grenzzaun niedergerissen: „In diesem kurzen Moment wird eine Vorstellung möglich: Befreiung.“ Dies gelte „unabhängig davon, wie man strategisch, militärisch oder politisch zu der von verschiedenen Gruppen ausgeführten Operation steht“.
Zur Erinnerung: Am 7. Oktober wurden rund 1200 Israelis ermordet, Tausende verletzt, gequält, vergewaltigt. Al-Taher schreibt: „Die Tatsache, dass der 7. Oktober nicht nur für Tod steht, sondern auch mit Freiheit verbunden ist, lässt sich nicht einfach ignorieren, auch wenn die deutsche Staatsräson eine solche Interpretation nicht zulassen kann.“
Aus der Davo kommt vereinzelt Widerspruch. Ein Islamwissenschaftler, der aus Furcht vor beruflichen Konsequenzen anonym bleiben möchte, kritisiert eine „monothematische“ Ausrichtung. Eine Position für Palästina sei zwar Konsens, sagt er und verweist auf die rund 60.000 getöteten Palästinenser im Gaza-Krieg. Der Vorstand erkläre allerdings nicht, wem „Solidarität“ gelte: „Für das Land, die Menschen in Palästina, dortige Organisationen – oder die palästinensischen Unterdrücker der Palästinenser?“ Ein Israel-Boykott sei falsch, er treffe auch regierungskritische und arabische Israelis.
„Transformation in ideologische Echokammer“
Johannes Becke, Professor für Israel-Studien an der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg und selbst Davo-Mitglied, wirbt für eine enge Kooperation von Islamwissenschaften und seiner Disziplin nach dem 7. Oktober. „Mit der Transformation der Davo in eine ideologische Echokammer, die von BDS-Unterstützern geführt wird, ist ein solches Gespräch dort nicht mehr möglich“, sagt der Forscher. „Die Forschung zu den arabisch-israelischen Beziehungen, bei der nicht die eine oder die andere Seite im Voraus als politischer Feind markiert wird, muss sich damit andere Räume suchen – außerhalb der Davo.“
Auch das Netzwerk Jüdischer Hochschullehrender äußert Kritik: „Aussagen, die den 7. Oktober ästhetisieren, relativieren oder in ein ‚Befreiungs‘-Narrativ überführen, verkehren Täter und Opfer, negieren das Leid der Betroffenen und reproduzieren antisemitische Deutungsmuster“, sagt Leiterin Julia Bernstein, Professorin für Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences. Statt „Romantisierung“ müsse das terroristische Massaker verurteilt werden.
Der akademische Boykott Israels untergrabe Wissenschaftsfreiheit und Glaubwürdigkeit der Forschung. „Für jüdische und israelische Forschende in Deutschland führt eine solche Ausrichtung zu Ausgrenzungserfahrungen, Selbstzensur, Einladungs- und Kooperationsverlusten, erhöhtem Sicherheitsdruck und realen Karriereeinbußen“, sagt Bernstein. Hinzu komme die psychische Belastung durch zunehmende Bedrohungen.
Der Zentralrat der Juden hält Boykott-Aufrufe gegen Israel in der Wissenschaft für einen „Ausdruck von Geschichtsvergessenheit“. Ein Sprecher sagt: „Es sind nicht deutsche Professoren, die ihre Vorlesungen wegen Raketenalarm unterbrechen müssen. In Israel ist dies an der Tagesordnung.“ Der Davo komme eine besondere Verantwortung zu, „die Ideale und Potenziale der Wissenschaft zu fördern: den Austausch, die Verständigung über Länder- und kulturelle Grenzen hinaus sowie das gegenseitige Verständnis“. Mit Boykottaufrufen werde „jegliche konstruktive Arbeit torpediert“.
Verbandschefin Binzel betont auf Anfrage, dass es bei der Uppsala Declaration und ihrem offenen Brief um Kooperationen mit israelischen Institutionen gehe, nicht um einzelne Wissenschaftler. „Beides steht in keinem Zusammenhang mit meiner Funktion als Vorsitzende der Davo und ist durch die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit geschützt.“ Stellvertreterin Al-Taher verweist nur auf das Vorstandsprogramm, dem zufolge die Arbeitsgemeinschaft ein Ort für „kritische, interdisziplinäre, internationale und engagierte Wissenschaft“ sein soll.
Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über Gesundheitspolitik, die Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht. Er berichtet zudem regelmäßig über Antisemitismus, Strafprozesse und Kriminalität.
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