Gerade erst stand wieder ein Vater vor Gericht. Der 28-Jährige aus dem Hochwald nahe Trier war angeklagt wegen Totschlags: Er soll seinen drei Monate alten Sohn so heftig geschüttelt haben, dass er an den Folgen starb. Der Notarzt hatte die typischen Einblutungen in der Netzhaut des Säuglings festgestellt. Auch ein medizinisches Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass das Baby durch Hirnblutungen infolge einer Schüttelattacke ums Leben kam.
Der Vater aber wurde Mitte September freigesprochen, weil er aussagte, er habe seinen Sohn erst geschüttelt, als er schon leblos gewesen sei – in dem verzweifelten Versuch, ihn zurückzuholen.
Die Zahl der Kindesmisshandlungen ist zuletzt deutlich gestiegen, allein 3610 Fälle wurden in der Polizeilichen Kriminalstatistik für 2024 bundesweit erfasst, rund fünf Prozent mehr als im Vorjahr und der höchste Stand seit 2020.
Auch die Zahl der Mädchen und Jungen, die wegen „dringender Kindeswohlgefährdung“ von den Jugendämtern aus ihren Familien geholt wurden, nimmt zu: 2024 waren es laut Bundesamt für Statistik 2600 Fälle und damit zehn Prozent mehr als im Jahr zuvor.
Die häufigste Form der Misshandlung im Säuglingsalter ist das Schütteln. Die Dunkelziffer ist hoch, Experten schätzen, dass in Deutschland zwischen 100 und 200 Säuglinge pro Jahr an den Folgen dieser Gewalt sterben. Ärzte auf Geburtstationen sind alarmiert. Denn nach einer Studie des Deutschen Krankenhausinstituts sind 15 Prozent der Eltern in Geburtskliniken in so schlechter psychischer und sozialer Verfassung, dass das Baby zu Hause gefährdet sein könnte. Der Anteil dieser Familien hat sich in den vergangenen acht Jahren verdoppelt.
„Mit einem geschädigten Kind ist unfassbares Leid verbunden“, sagt Wolfgang Henrich, Chefarzt der Geburtsmedizin in der Berliner Charité. „Wir müssen den Gipfel der Gewalt an Neugeborenen stoppen oder zumindest eindämmen.“ Über die schweren Folgen eines Schütteltraumas müsse man die Eltern besser aufklären, fordert er. Eine Studie des Nationalen Zentrums für Frühe Hilfen gibt ihm recht: Demnach glauben 24 Prozent der Eltern, dass Schütteln vielleicht nicht so schön ist, aber auch nicht schädlich.
„Die Wahrheit ist, dass nur zehn Prozent der Kinder mit Schütteltrauma langfristig unbeschadet davonkommen“, sagt Henrich. „Wenn die Nerven der Eltern blank liegen und sie ihr Kind schütteln, fliegt der im Nacken noch instabile Kopf hin und her.“ Bei Säuglingen sei das besonders schlimm, weil der Kopf noch nahezu die Hälfte des Körpergewichtes ausmache. „Im Gehirn kommt es zum Einriss von Venen. Dies führt zu Hirnblutungen, die zum Tod oder zu schwersten neurologischen Schäden führen können.“
Laut einer bundesweiten Untersuchung der Gewaltschutzambulanz der Charité versterben 20 Prozent der Kinder, die an einem Schütteltrauma leiden. Die große Mehrheit der Überlebenden hat starke geistige oder körperliche Beeinträchtigungen. So leiden 34 Prozent von ihnen dauerhaft an einer schweren Behinderung wie der Lähmung aller vier Extremitäten, 30 Prozent haben wiederkehrende epileptische Anfälle, andere erblinden oder lernen niemals zu sprechen – wegen eines kurzen Moments des Kontrollverlusts.
„Das Geschrei eines Babys kann so laut sein wie ein Presslufthammer“, sagt Henrich. „Manche Väter setzen sich Lärmschutz-Kopfhörer auf und sind doch am Rand der Verzweiflung. Es ist nicht nur die Lautstärke, sondern auch die Panik: Was hat das Kind?“ Väter werden nach Henrichs Beobachtungen öfter zum Täter als Mütter. „Die Verantwortlichen sind nach unserer Erfahrung meistens Männer, in Patchwork-Konstellationen handelt es sich oft um die Stiefväter, bei denen die Hemmschwelle niedriger ist.“ Bevor man allerdings einen Verdacht äußere, müsse man sehr genau hinschauen, also zunächst alle Differenzialdiagnosen ausschließen. „Nach einer solchen Tat“, sagt Henrich, „ist es nur schwer vorstellbar, weiter als Familie zu existieren.“
Um im Verdachtsfall sicherzugehen, arbeiten in vielen Krankenhäusern Kinderschutzgruppen zusammen, in denen sich Kinderärzte, Psychiater, Sozialarbeiter und Rechtsmediziner in ihrem Vorgehen abstimmen. Das Verletzungsbild nach einem Schütteltrauma sei oft so schwer, wie es sonst eigentlich nur nach schweren Verkehrsunfällen vorkomme. Rechtsmedizinerin Anna Müller beschreibt die Konsequenzen, wenn sich ein Verdacht bestätigt: „Das Kind wird den Eltern möglicherweise weggenommen, es folgen oft familiengerichtliche Prozesse. Da ist es wichtig, dass alle Untersuchungen, die notwendig sind, auch stattgefunden haben und wir uns unserer Diagnose sicher sein können.“
Wie bei dem viermonatigen Lukas, der vor einigen Monaten an einem Abend in die Notaufnahme der Charité kam und in Wirklichkeit anders heißt. Bis zum Nachmittag habe er sich normal verhalten, erzählten die Eltern laut Müller, dann aber plötzlich schrill geschrien, sich nur noch wenig bewegt und auch nicht mehr getrunken. „Wir stellten fest, dass der Säugling immer wieder Atempausen hatte und Griffhämatome an den Oberarmen und Rücken, einige Rippen waren gebrochen“, schildert Müller. Ein Augenarzt wurde hinzugezogen und fand die für ein Schütteltrauma typischen Netzhauteinblutungen. Offenbar hatten Verletzungen im Hirnstamm, wo sich das Atemzentrum befindet, die Atempausen verursacht.
Nach den ersten Gesprächen sagten die Eltern, so die Schilderung der Rechtsmedizinerin, das Kind sei aus dem Bett auf den Boden gefallen. Dies sei der Mutter unangenehm gewesen, und sie habe es zunächst nicht erzählen wollen. „Doch auch das passte nicht – durch einen solchen Sturz bekommt man diese Einblutungen nicht“, sagt Müller. Weil aber die Eltern bei der Darstellung blieben, das Kind sei nicht durch sie geschädigt worden, musste das Jugendamt den Säugling in Obhut nehmen. Anders wäre es gewesen, wenn die Eltern ehrlich erzählt hätten, was passiert war, und sie bereit gewesen wären, Hilfe anzunehmen.
Lukas lebt jetzt in einer Pflegefamilie. Bald fängt der Gerichtsprozess an, solange dürfen die Eltern ihr Kind nur im Beisein eines Umgangspflegers sehen. „Sein Kopf ist für sein Alter sehr klein. Lukas muss engmaschig weiter medizinisch untersucht werden“, sagt Müller. Bislang habe er Glück gehabt. Aber viele Beeinträchtigungen zeigen sich laut Kinderärzten erst bei den Entwicklungsmeilensteinen wie beim Laufen- oder Sprechenlernen.
Eine mögliche Spätfolge eines Schütteltraumas sind auch Verhaltensauffälligkeiten und Konzentrationsstörungen. Forscher glauben inzwischen, dass ein Teil der ADHS-Erkrankungen auf ein frühes Schütteltrauma zurückzuführen ist. Ebenso gibt es Forschungen zu der These, dass ein Teil der Fälle des sogenannten plötzlichen Kindstodes in Wirklichkeit ein Schütteltrauma mit Todesfolge ist. „Ich habe es schon erlebt, dass ich ein Kind obduzieren musste, dass den Verdacht hatte auf plötzlichen Kindstod“, sagt Müller. „Nach der Untersuchung aber stellte sich heraus, dass es an den Folgen eines Schütteltraumas verstorben war.“
„Das Thema ist schambesetzt“
Um Familien besser zu begleiten und einer möglichen Eskalation vorzubeugen, haben zwei Drittel aller Geburtskliniken in Deutschland einen Lotsendienst eingerichtet. Die Babylotsinnen nehmen Kontakt zu den Müttern auf, die vorbelastet sind durch Mehrlingsgeburten, Gewalt in der Familie oder unter einer instabilen wirtschaftlichen Situation leiden. Sie können den Kontakt zu Familien-Hebammen herstellen, die Eltern und Kind zu Hause besuchen. Oder sie bieten regelmäßig Gespräche an, vermitteln in bestehende Hilfsorganisationen und begleiten die Familien bis zu einem Jahr.
„Eine Patientin, die in der Geburtsklinik bereits einen Kontakt zur Babylotsin hatte, ruft eher an, wenn ihr Mann grob mit dem Kind umgeht oder das Baby so viel schreit, dass sie es selbst kaum aushält“, sagt die Gynäkologin und Geburtsmedizinerin Christine Klapp, die den Einsatz der Lotsinnen mit ins Leben gerufen hat. „Das Thema ist ja schambesetzt, und oft wissen junge Mütter nicht, wohin sie sich wenden sollen. Die Babylotsin kann schnelle Tipps geben, wie: Lieber das Kind ablegen, schreien lassen und aus dem Zimmer gehen, wenn man nicht mehr weiterweiß.“
Zudem klären Kliniken in ganz Deutschland mithilfe von „Schüttel-Puppen“ junge Mütter auf, bevor sie mit ihren Babys nach der Geburt entlassen werden. Betätigt man an der Puppe den Aktivierungsknopf, fängt sie grell an zu schreien.
Wenn man sie dann am Brustkorb packt und hin und her schleudert, ist zu erkennen, wie sich das Gehirn im durchsichtigen Acrylkopf der Puppe bewegt. Es leuchten dort rote Punkte auf, sie simulieren Blutungsherde. Und plötzlich ist die Puppe still.
„Unsere Aufklärung zeigt Wirkung“, sagt Charité Chefarzt Henrich. „Bei uns wurde im vergangenen Jahr kein in der Charité geborener Säugling mehr mit Schütteltrauma eingeliefert.“
Politikredakteurin Freia Peters berichtet für WELT über Familien- und Gesellschaftspolitik sowie Bildung.
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