Es war ein Konflikt, der mit aller Härte geführt wurde und erst seit ein paar Tagen entschieden ist: Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat einen Machtkampf gegen EU-Chefdiplomatin Kaja Kallas für sich entschieden. Dabei war das Tauziehen zwischen den beiden Alpha-Frauen weitaus mehr als ein Beziehungs-Dramolett in der Brüsseler Polit-Blase.
Es ging vielmehr auch um eine ganz grundsätzliche Frage: Ist der Europäische Auswärtige Dienst (EAD), der unter Leitung von Kallas die Außenpolitik der Europäischen Union koordinieren und mitbestimmen soll, ausreichend leistungsfähig, um angesichts der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen in der Welt und der Unordnung, die US-Präsident Donald Trump schafft, bestehen zu können?
Die Antwort, die Kallas elf Monate nach Amtsantritt auf diese Frage gefunden hat, ist eindeutig: ein klares Nein. Die langjährige Ministerpräsidentin Estlands präsentierte darum intern eine Idee, von der sie offenbar ihre engsten Berater überzeugt hatten: Der deutsche EU-Kommissionsbeamte Martin Selmayr sollte die verkrusteten Strukturen in dem schwerfälligen, weltweit tätigen Diplomatendienst mit seinen rund 7500 Mitarbeitern (davon etwa 1650 in Brüssel) aufbrechen und dem Haus eine neue Schlagkraft verordnen.
Dabei unterschätzte Kallas offenbar, was dieser Personalvorschlag in zahlreichen EU-Hauptstädten und bei von der Leyen auslöste: Entsetzen.
Selmayr war zwischen 2014 und 2019 Chefberater des ehemaligen EU-Kommissionschefs Jean-Claude Juncker. Er gilt als der mächtigste Beamte, den es je in der langen Geschichte der EU-Kommission gegeben hatte. Sein Spitzname: „Rasputin“ – eine Anspielung auf einen russischen Wanderprediger, der zeitweise großen Einfluss im damaligen Zarenreich hatte.
Selmayr, geboren in Bonn und Jura-Professor in Saarbrücken, gilt als brillanter Kopf und äußerst durchsetzungsstark, aber auch als ein Mann, der Macht und sein eigenes Ego über alles stellt. In den späten Tagen der Juncker-Ära wurde er in einer Blitzaktion zum Generalsekretär und damit zum obersten Beamten der EU-Kommission befördert. Das Europäische Parlament sprach damals in einer Resolution von einer „putschartigen Aktion“, die es „zu überdenken“ gelte.
Der Vorgang war einmalig in der Geschichte des Hauses. Aber Juncker hielt stur an Selmayr fest. Ganz anders von der Leyen: Sie setzte den mächtigen Beamten an einem warmen Julitag im Jahr 2019 innerhalb von wenigen Minuten vor die Tür. Selmayr wurde davon kalt erwischt, bei seinem Abschied soll er nach Angaben von Teilnehmern in Anlehnung an Arnold Schwarzeneggers ‚Terminator‘ angekündigt haben: „I’ll be back“.
„Selmayr kommt ins Abklingbecken“
Aber zunächst schickte von der Leyen den ungeliebten Beamten aus Deutschland nach Wien und machte ihn dort zum Leiter einer kleinen und weitgehend unbedeutenden EU-Delegation. „Selmayr kommt ins Abklingbecken“, hieß es damals sarkastisch in hohen Kreisen der Kommission.
Seitdem hatte der 54-Jährige mehrfach versucht, dem Wiener Exil zu entfliehen: Er bewarb sich auf mehrere wichtige EU-Botschafterposten wie New York oder Washington, und wurde wegen mangelnder außenpolitischer Erfahrung abgelehnt. Auch eine Rückkehr nach Brüssel stand kurze Zeit in Aussicht – bis von der Leyen ein Machtwort sprach. Sie wollte kein zweites Machtzentrum in Brüssel haben.
Im Spätsommer 2023 kam es dann zum finalen Bruch zwischen Selmayr und der Kommissionschefin. Als EU-Delegationschef in Wien hatte Selmayr bei einer öffentlichen Veranstaltung Österreichs Gaszahlungen an Russland als „Blutgeld“ bezeichnet. Die damalige schwarz-grüne Regierung unter Bundeskanzler Karl Nehammer wies den Vorwurf scharf zurück.
Aber viel schlimmer war: Die Spitze der EU-Kommission fühlte sich bei der Aufarbeitung des Vorfalls von ihrem selbstbewussten Beamten getäuscht. Es folgten heftige interne Auseinandersetzungen – und ein endgültiges Zerwürfnis. Vor einem Jahr wurde Selmayr EU-Botschafter im Vatikan.
Dann die plötzliche Wende: Vor ein paar Monaten ergab sich für Selmayr die Chance, im EAD stellvertretender Generalsekretär für die neue Abteilung „Geoökonomie und interinstitutionelle Angelegenheiten“ zu werden. Er wäre dann neben Kallas der starke Mann im EAD gewesen – mit direkten Kontakten zu allen Botschaftern, zum EU-Parlament und in die Hauptstädte.
Selmayr hätte wieder ganz oben auf der Weltbühne mitgespielt. Ukraine, Gaza, Amerika und China wären seine Themen gewesen und nicht länger die Prägung von Sammlermünzen im Rahmen des Währungsabkommens zwischen Vatikanstadt und der EU.
Ein vergiftetes Angebot
Hat Kallas nicht gewusst, welch‘ eine Provokation die Personalie Selmayr für von der Leyen darstellte? Oder wollte sie mit dem Kopf durch die Wand, weil für sie nur Ergebnisse zählen? Jedenfalls machte von der Leyen nach zahlreichen Gesprächen kurzen Prozess: In der vergangenen Woche sprach sich das Kollegium der EU-Kommissare auf Vorschlag der Präsidentin nach WELT-Informationen für die Einrichtung eines neuen „Beauftragten für Religionsfreiheit“ aus. Man bot das Amt umgehend Selmayr an.
Es war ein vergiftetes Angebot: Damit konnte von der Leyen den Diplomaten Selmayr dem weiteren Zugriff von Kallas und ihrer Behörde entziehen und zu sich in die Kommission zurückbeordern. Selmayr muss jetzt entscheiden, ob er den drittklassigen Posten annimmt, ein unwichtiger Botschafter im Vatikan bleiben will oder die EU-Kommission nach 22 Dienstjahren verlässt. Mit einem einzigen technokratischen Winkelzug hat die Kommissionspräsidentin Kallas und Selmayr ausgekontert.
Das eigentliche Problem aber bleibt bestehen: die große Schwäche des EAD. „Das Problem der Behörde ist, dass sie viel zu wenig Geld hat und die Mitgliedstaaten immer wieder neue Beamte in den EAD schicken, deren einziger Zweck es ist, aufzupassen, dass der Europäische Auswärtige Dienst nichts unternimmt, was den Interessen einzelner Hauptstädte zuwiderläuft“, sagt Jan Techau. Der langjährige Direktor der Brüsseler Denkfabrik Carnegie, früherer Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums in Berlin und heutiger Europa-Direktor bei der Beratungsfirma Eurasia Group gehört zu den besten Kennern der europäischen Außenpolitik.
Kein großes Mitgliedsland, so Techau, habe Kallas offenbar bei der Auseinandersetzung mit von der Leyen unterstützt. „Natürlich lässt sich darüber streiten, ob Selmayr der Richtige gewesen wäre, um den Dienst zu reformieren. Aber die Mitgliedstaaten haben doch in Wahrheit gar kein Interesse daran. Sie wollen die Außenpolitik weiterhin allein entscheiden.“
Insofern habe Kallas auch die Machtfrage gestellt. „Es ging darum, wer vor dem Hintergrund neuer Herausforderungen in der europäischen Außenpolitik das Sagen hat. Wer, wie Kallas, einen Führungsanspruch des EAD einfordert, bekommt ein Problem.“ Neben dieser strukturellen Frage gebe es aber auch persönliche Befindlichkeiten: „Frau von der Leyen ist die ambitionierte Weltpolitikerin in der EU. Sie kann Kallas nicht gebrauchen. Und Selmayr auch nicht.“
Techau sagt weiter, die Zustände im Koordinationszentrum der europäischen Außenpolitik wären für Kallas möglicherweise ein „Schock“ gewesen: „Sie ist es gewohnt als ehemalige Ministerpräsidentin von Estland, dass ihre Mitarbeiter loyal sind und funktionieren. Nun hat sie zahlreiche linke Südeuropäer im EAD sitzen, die von mehreren früheren Hohen Beauftragten, die Sozialisten waren, hineingeholt wurden, und ein ganz anderes Verständnis von Amerika und Russland haben als Kallas.“
Christoph B. Schiltz ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet unter anderem über Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, die europäische Migrationspolitik, die Nato und Österreich.
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