Eines stand schon fest, lange bevor die Wahllokale in den Niederlanden um 21 Uhr geschlossen wurden: Geert Wilders wird auch dieses Mal nicht Premierminister werden. Ob seine rechtsnationale PVV am Ende nun stärkste Kraft werden würde oder nicht. Nach ersten Zahlen sieht es so aus, als dass Wilders herbe Verluste hinnehmen muss. Alle großen Parteien haben im Wahlkampf eine Zusammenarbeit mit der PVV ausgeschlossen, nachdem Wilders im Juni das Regierungsbündnis hatte platzen lassen.
Mit Spannung war daher erwartet worden, welcher Spitzenkandidat der anderen großen Parteien das beste Ergebnis einfahren – und damit die größten Chancen auf das Amt des Premierministers haben würde. Lange war ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Sozialdemokrat Frans Timmermans und Christdemokrat Henri Bontenbal erwartet worden. Doch nun zeichnet sich ein Überraschungssieger ab: Rob Jetten, 38 Jahre alt und Spitzenkandidat der Democraten66 (D66).
Die sozialliberale Partei kommt laut Hochrechnungen auf 26 Sitze, ebenso wie Wilders‘ PVV. Die Parlamentswahl im Jahr 2023 hatte Wilders gewonnen. Seine Partei erreichte damals 37 Sitze – sollte sich die Hochrechnung nun bestätigen, würde die PVV elf Sitze verlieren.
Die liberale Partei VVD erzielte laut Hochrechnung 22 Sitze, die linksgerichtete Groenlinks/PvdA kam demnach auf 20 Sitze. Ihr Vorsitzender, der EU-Klimakommissar Frans Timmermans, trat noch am Abend zurück. Dahinter folgen die Christdemokraten mit 18 Sitzen. Insgesamt könnten 15 Parteien in das Parlament in Den Haag einziehen – in den Niederlanden gibt es keine Fünf-Prozent-Hürde.
Ob aus dem Wahlerfolg der D66 auch ein stabiles Regierungsbündnis entstehen kann, ist völlig unklar. Die niederländische Politik war zuletzt von Streitereien und Stagnation geprägt. Es war bereits die dritte Wahl innerhalb von fünf Jahren: nachdem die Mitte-Rechts-Regierung unter Mark Rutte im Streit um die Neuregelung des Familiennachzugs zerbrochen war, gab es schon im November 2023 vorgezogene Neuwahlen. Mit einem harten Anti-Migrationswahlkampf wurde Wilders‘ PVV erstmals stärkste Kraft.
Es folgte ein monatelanges Ringen, bis sich eine rechtsgerichtete Vier-Parteien-Koalition fand, an der die PVV beteiligt war – allerdings unter der Bedingung, dass Wilders nicht Premierminister wird. Stattdessen wurde der Parteilose Dick Schoof ausgewählt. Ein Kompromiss, der nicht einmal ein Jahr lang hielt: Nach Monaten voller Chaos und Streit, in denen kaum eines der politischen Vorhaben umgesetzt wurde, zog Wilders die PVV aus der Koalition ab, weil die Verschärfungen der Asylpolitik aus seiner Sicht nicht schnell genug vorangingen.
Ein riskanter Schritt, hätte eine erfolgreiche Koalition die Partei doch endgültig im politischen System etablieren und Wilders den Weg zum Premierminister ebnen können. Doch Wilders hatte offenbar gehofft, die damals schwächelnden Umfragewerte der PVV wieder aufbessern zu können, indem er sich von den Kompromissen der Koalition lossagt und zu alter rhetorischer Härte zurückkehrt. Damit scheint er sich verkalkuliert zu haben.
„Wir hatten auf ein anderes Ergebnis gehofft“
Die PVV wird wohl deutlich an Sitzen verlieren; zugleich erklärten die anderen Parteien das Experiment, die Rechtsnationalen an der Regierung zu beteiligen, als gescheitert – und zogen die alte Brandmauer wieder hoch. Wilders hat nun keine einzige Machtoption mehr. Auf X gestand er am Wahlabend ein, dass das Resultat seiner Partei hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist. „Wir hatten auf ein anderes Ergebnis gehofft“, schrieb er in den Messengerdienst.
Stattdessen ist es also die sozialliberale D66, die womöglich die neue niederländische Regierung anführen könnte. Vor zwei Jahren kam die Partei auf gerade einmal neun Sitze und schien noch bis vor wenigen Wochen auch diesmal kaum darüber hinauszukommen. Doch Spitzenkandidat Jetten legte einen bemerkenswerten Endspurt im Wahlkampf hin und steht nun vor dem womöglich besten Ergebnis der Parteigeschichte.
Auf der Wahlparty der D66 brachen nach Bekanntgabe der Prognose „Yes, we can“-Sprechchöre aus. Jetten wäre nicht nur der erste Premierminister der sozialliberalen Partei, sondern auch der jüngste und erste offen homosexuelle Regierungschef in der Geschichte der Niederlande. Im Wahlkampf hat er das aber explizit nicht zum Thema gemacht. Statt Identitätspolitik setzte er auf Themen wie Bildung, Europa oder Klimaschutz, rückte seine Partei in Bezug auf Migration nach rechts und forderte einen gesunden Patriotismus.
Jetten gilt als eloquent und schlagfertig, kann als Vize-Premier und Energieminister im Kabinett Rutte bereits Regierungserfahrung vorweisen. Er schlug betont optimistische Töne an und positionierte sich in den sozialen Medien und bei TV-Debatten gezielt als Kontrast zu Wilders. Ein Ansatz, der offenbar verfangen hat – wohl auch, weil der Wahlkampf, in dem neben Migration vor allem die extrem angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt und die steigenden Kosten für Gesundheit und Pflege eine Rolle spielten, von einem oft rauen Ton geprägt war.
„Ein Sieg über den Hass“
Der Wahlerfolg sei ein „Sieg über den Hass“ des Rechtspopulisten Wilders, sagte Jetten bei der Wahlparty. „Dies ist ein Abschied von politischer Negativität.“ Der 38-Jährige sehe sich der Verantwortung als Premierminister gewachsen, hatte er bereits am Vorabend der WELT-Partnerpublikation „Politico“ gesagt. „Ich bin bereit, die Führung zu übernehmen, wenn ich die Chance dazu bekomme.“ Er würde in etwaigen Koalitionsverhandlungen mit allen demokratischen Kräften sprechen, die ein pro-europäisches Regierungsprogramm unterstützen, das Investitionen in Bildung, bezahlbares Wohnen und Klimaschutz stärkt.
Doch die Suche nach ebendiesen Bündnispartnern dürfte alles andere als einfach werden. Weil es in den Niederlanden keine Sperrklausel gibt, werden wieder deutlich mehr als ein Dutzend Parteien im Parlament vertreten sein. Um die Mehrheit von 76 Sitzen ohne die PVV zu erreichen, wird wohl mindestens eine Vier-Parteien-Konstellation nötig sein, die ein breites politisches Spektrum unter einen Hut bekommen müsste.
Da ist zum einen die VVD, die Teil der gescheiterten Koalition mit der PVV war und laut Prognose besser abschnitt, als es die Umfragen zuletzt vermuten ließen. Auch die Christdemokraten erzielten einen Achtungserfolg: Drohten sie vor zwei Jahren mit gerade einmal fünf Sitzen noch in der Versenkung zu verschwinden, könnten sie jetzt wieder eine größere Rolle in einer künftigen Regierung spielen.
Enttäuschend lief der Wahlabend dagegen für das rot-grüne Bündnis um Timmermans, das 2023 noch zweitstärkste Kraft geworden war, nun aber wohl fünf Sitze einbüßt. Timmermans verkündete kurz nach Bekanntgabe der ersten Prognose seinen Rücktritt als Parteivorsitzender. „Es ist mir nicht gelungen, genug Menschen davon zu überzeugen, uns ihre Stimme zu geben“, sagte der ehemalige EU-Kommissar und Vize-Kommissionpräsident vor seinen Anhängern.
Für eine stabile Mehrheit müssten sich die vier großen Parteien zusammenschließen – obwohl die Parteichefin der PVV, Dilan Yesilgöz, eine Kooperation mit Rot-Grün eigentlich ausgeschlossen hatte. Alternativ wäre auch eine Minderheitsregierung unter Führung einer der Parteien denkbar, die sich dann im Parlament für jedes Vorhaben Mehrheiten organisieren müsste. Welche Konstellationen genau infrage kommen, wird sich erst zeigen, wenn belastbare Ergebnisse vorliegen.
Wie es nach dem Scheitern des Wilders-Experiments in den Niederlanden weitergeht, dürfte auch in anderen europäischen Ländern aufmerksam beobachtet werden. Vielerorts sind bei kommenden Wahlen ähnliche Konstellationen denkbar, in denen eine Mehrheit ohne die Rechtspopulisten nur durch ein breites Mehrparteienbündnis möglich sein wird. Im Fall der PVV hat die Regierungsbeteiligung die Partei jedenfalls zumindest vorübergehend geschwächt.
Ein endgültiger Abschied von Wilders, wie ihn der mögliche Wahlsieger Jetten schon verheißt, ist das aber keineswegs. Immerhin könnte die PVV trotz der Verluste ihr zweitbestes Ergebnis der Parteigeschichte eingefahren haben. Und außerhalb der Regierung wird Wilders wohl nur zu leicht in die Rolle zurückfinden, die ihm am besten liegt: Die des Provokateurs an der Seitenlinie, der die Regierungsparteien vor sich hertreibt.
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