Im Minutentakt bringen die Bewohner der Favela die Leichen auf die Straße. Hier, am Praça São Lucas, einem der zentralen Plätze im Armenviertel Penha in der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro, stehen Hunderte am Rand und schauen schweigend zu. Manchmal erheben einzelne Menschen ihre Stimme. „So etwas habe ich noch nie gesehen“, stammelt ein Mann. Fast 40 Tote tragen die Menschen zusammen.

In der Favela gleich neben dem gefürchteten „Complexo Alemao“ hatte es am Vortag die tödlichste Razzia in der Geschichte von Rio de Janeiro gegeben. Mehr als 120 Menschen sollen insgesamt ums Leben gekommen sein. Nach dem Schock kommt die Wut. Nachbarn ziehen durch die Straßen und erklären Rio de Janeiros Gouverneur Claudia Castro zum Terroristen. Er hat die Razzia politisch zu verantworten.

Die dramatischen Bilder aus dem Armenviertel heizen die politische Debatte über die innere Sicherheit in Brasilien an. Für den linkspopulistischen Präsidenten Lula da Silva ist sie eine „tickende Zeitbombe“, wie die Zeitung „O Estadao“ kommentiert.

Erst vor wenigen Tagen hatte Lula die Drogenhändler als „Opfer der Konsumenten“ bezeichnet und damit eine Protestwelle ausgelöst. Für die politische Rechte, die mit der Verurteilung von Ex-Präsident Jair Bolsonaro vorübergehend politisch bedeutungslos geworden war, tut sich zu Beginn des Wahljahres ein Thema auf.

Lula da Silva kennt seine offene Flanke. Laut einer repräsentativen Umfrage von Parana Pesquisas sagen 45,8 Prozent der Brasilianer, die öffentliche Sicherheit habe sich unter dem aktuellen Präsidenten verschlechtert. Nur knapp 18 Prozenten geben an, sie sei besser geworden.

In den sozialen Netzwerken tobt seit Lulas umstrittener Täter-Opfer-Umkehr ein hitziger Kampf. Mit KI generierte Videos sollen angebliche Überfallopfer zeigen, die sich bei den Räubern entschuldigen – weil ja die Täter in Wahrheit die Opfer seien. Schließlich musste sich der Präsident öffentlich korrigieren: „Ich möchte klarstellen, dass ich mich ganz eindeutig gegen Drogenhändler und das organisierte Verbrechen ausspreche.“

Doch da war seine Aussage kaum noch einzufangen. Der Vorwurf der Rechten, dass Lula da Silva eher mit den Tätern als mit den Opfern sympathisiere, steht weiter im Raum. Eines der meistgeteilten Fake-Fotos in den sozialen Netzwerken zeigt einen weinenden Präsidenten als Mitglied des kriminellen Kartells „Comando Vermelho“ (CV). Lula bittet auf dem Foto darum, dass das Töten seiner Kameraden beendet werde. Die blutige Polizeiaktion in Rio richtete sich eben gegen dieses Kartell, das als eine der mächtigsten kriminellen Organisationen Brasilien gilt.

Und noch etwas spielt in die Debatte herein: Das ebenso schnelle wie harte Urteil gegen den rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro wegen eines mutmaßlichen Putschversuchs. Der Vorwurf, den die Rechte in den Raum stellt: Gegen politische Gegner Lulas gehe die brasilianische Justiz entschieden vor, die organisierte Kriminalität habe dagegen nichts zu befürchten.

Vier Millionen Botschaften ausgewertet

In den sozialen Netzwerken werden die „gefallenen“ Polizisten der Razzia als Helden gefeiert. Es gibt Videos, die zeigen sollen, wie sie vor dem Einsatz beten und um Gottes Beistand bitten.

Das Umfrageinstitut Bites hat die rund 4,4 Millionen digitalen Botschaften seit dem Blutbad ausgewertet und kommt zu dem Ergebnis, dass Politiker der Rechten bislang „erfolgreicher darin waren, ihre Botschaften zu den Ereignissen zu verbreiten, indem sie die Operation lobten, die Regierung von Lula wegen ihrer Versäumnisse bei der Verbrechensbekämpfung kritisierten oder die Linke dafür kritisierten, dass sie Drogenhändler verteidige“.

Entsprechend vorsichtig taktiert nun der Präsident. Hatte sein Justizminister Ricardo Lewandowski am Tag der Razzia noch gefordert, Rios Gouverneur Castro müsse die „Verantwortung übernehmen“ oder zugeben, dass er nicht in der Lage sei, die Sicherheit des Bundesstaates zu garantieren, schickte der Präsident Lewandowski nun in eine Art Sonderkommission, um Castro zu unterstützen. Nichts soll den Eindruck erwecken, Lula könne vielleicht doch Sympathien mit den ermordeten Bandenmitgliedern haben oder gar der Polizei in den Rücken fallen.

Noch ist unklar, wer alles unter den Opfern der Razzia ist. Die Polizei berichtet, dass sich das „Comando Vermelho“ in Rio de Janeiro mit Gangmitgliedern aus anderen Bundesstaaten verstärkt habe. Mindestens drei Dutzend der Getöteten sollen gar nicht aus Rio stammen, was ihre Identifizierung erschwert.

Der evangelikale Pastor Otoni de Paula erhob unterdessen schwere Vorwürfe. Gläubige seiner Gemeinde seien unter den Toten, sagte er. „Jungen, die nie Gewehre getragen haben, aber in der Statistik als Kriminelle gezählt werden. Und wissen Sie, wer herausfinden wird, ob sie Kriminelle sind oder nicht? Niemand wird das überprüfen. Wissen Sie, warum nicht? Ein Schwarzer, der an einem Tag der Operation in der Favela rennt, ist ein Krimineller. Ein Schwarzer mit Flip-Flops, ohne Hemd, kann ein Arbeiter sein. Ist er aber gerannt, muss er ja ein Krimineller sein.“

Die Zeitung „O Estadao“ berichtete derweil, dass das „Comando Vermelho“ eine Schreckensherrschaft in dem Viertel eingerichtet hatte. Die Polizei habe Beweise zur Begründung ihres harten Vorgehens vorgelegt, die belegten, dass die Anführer des Kartells die rund 100.000 Einwohner der Favela mit einem System drakonischer Gewalt unterdrückt hätten. Von den Ermittlern abgefangene Nachrichten und Bilder würden eine Maschinerie von Missbrauch und Willkür in einem Umfeld dokumentieren, zu dem der Staat nur eingeschränkten Zugang habe.

In dem Viertel herrsche eine Paralleljustiz, so die Zeitung. Die Kriminellen selbst würden Urteile fällen und die Strafen vollziehen, darunter auch Folter und Hinrichtungen. „Es handelt sich um eine streng etablierte und eingehaltene Befehlskette mit strengen Strafen für diejenigen, die sich nicht an die Vorgaben halten“, zitiert „O Estadao“ aus einem entsprechenden Schreiben.

Tobias Käufer ist Lateinamerika-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2009 über die Entwicklungen in der Region.

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