• Angehörige der Opfer beklagen, dass die Hintergründe der NSU-Morde teilweise immer noch kaum aufgeklärt sind.
  • Die Tochter des ermordeten Theodoros Boulgarides, Michalina, kritisiert Zschäpes Teilnahme am Neonazi-Aussteiger-Programm.
  • Unklar ist auch noch, inwieweit der Verfassungsschutz den NSU unterstützt und belastende Akten vernichtet hat.

Die Messlatte hochgehängt hatte niemand Geringeres als Angela Merkel: "Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären, und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken, und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden, in Bund und Ländern, mit Hochdruck!"

Dieses Versprechen gab sie am 23. Februar 2012 bei einer Trauerfeier für die Opfer der beispiellosen Mordserie. Heute, 14 Jahre nach dem Aufdecken des NSU und sieben Jahre nach dem Urteil gegen Beate Zschäpe und vier Mittäter aus dem Neonazi-Milieu, warten viele Angehörige immer noch auf Antworten: Bohrende Fragen blieben, weitere Helfershelfer und Hintermänner wurden, anders als von Merkel versprochen, nicht aufgedeckt.

Angehörige der Opfer enttäuscht über Ermittlungen

Abdulkerim Simsek, Sohn des 2000 in Nürnberg ermordeten Blumenhändlers Enver Simsek, sagte damals nach der Urteilsverkündung: "Ich bin total enttäuscht und richtig frustriert, dass wir immer noch nicht wissen, wie mein Vater als Opfer ausgewählt wurde! Ich bin mir sicher, dass es in Nürnberg einen Hinweisgeber gab. Ich bin total enttäuscht, dass die Ermittlungsbehörden sich dafür nicht interessieren und keine Aufklärung betreiben."

Ich bin total enttäuscht und richtig frustriert, dass wir immer noch nicht wissen, wie mein Vater als Opfer ausgewählt wurde!

Abdulkerim Simsek, Sohn des ermordeten Enver Simsek

Tatsächlich ist ungeklärt, nach welchen Maßstäben die NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ihre Opfer aussuchten. Warum sie wann und wo zuschlugen. Seit dem mutmaßlichen Selbstmord der beiden Zschäpe-Komplizen, am 4. November 2011 in Eisenach, wird über Sympathisanten aus der rechten Szene spekuliert: Eine Art Neonazi-Netzwerk, einen wesentlich größeren NSU, der die Opfer ausgewählt und die Taten vorbereitet – und der sie finanziert hat.

Kritik an Fokus auf das Trio

Spekulationen, die der Zschäpe-Prozess nicht klären konnte, bedauert der damalige Nebenklage-Anwalt Sebastian Scharmer: "Diese schnelle Festlegung auf die Trio-These hat einfach den offenen Blick an die Seitenränder vernebelt! Wir hätten gesehen, dass in Dortmund, in München, in Nürnberg und an den anderen Tatorten geschaut wird: Wo gibt es örtliche Helfer, Unterstützer, Leute, die ausgekundschaftet haben?"

Die Angeklagte beim anstehenden Dresdner Prozess war eine Helferin. Susann E. hatte der abgetauchten Zschäpe ihre Krankenkassen-Karte für Arztbesuche geliehen, hatte Fahrdienste für die Terroristen geleistet – unter anderem zur Abholung des Wohnmobils in Eisenach, in dem Böhnhardt und Mundlos zu Tode kamen. Susann E.'s Ehemann André, der sich "die, Jew, die!", zu deutsch "Stirb, Jude, stirb!" auf den Bauch hatte tätowieren lassen, war 2018 beim Münchener NSU-Prozess zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt worden.

Während der fünf Jahre andauernden Gerichtsverhandlung hatten weder André E. noch Beate Zschäpe zur Aufklärung beigetragen. Abdulkerim Simsek kritisierte im Bayerischen Rundfunk (BR): "Unsere Anwälte haben Frau Zschäpe im Prozess in München zahlreiche Fragen gestellt. Und Frau Zschäpe hat keine dieser Fragen beantwortet. Keine einzige!"

Tochter: Zschäpes Teilnahme an Aussteiger-Programm ist ein Skandal

Dass Zschäpe und André E. jetzt, kurz vor dem Prozessbeginn in Dresden bei einem Neonazi-Aussteiger-Programm mitmachen, empört die Hinterbliebenen ihrer Opfer. So auch Michalina Boulgarides. Ihr Vater Theodoros wurde 2005 in München vom NSU ermordet. Sie kritisierte ebenfalls im BR, dass es ein Skandal sei, dass beide für das Aussteigerprogramm in Frage kämen. "Es zeigt mal wieder die Täter-Opfer-Umkehr. Man ermöglicht den Tätern, den Terroristen, eine Resozialisierung. Und wir Angehörigen, Hinterbliebenen, Betroffenen, werden einfach hinten fallen gelassen." Michalina und ihre Schwester Mandy fordern in einem offenen Brief, Zschäpes Aufnahme in das Aussteigerprogramm noch einmal auf den Prüfstand zu stellen und ihr jegliche Hafterleichterung zu verwehren.

Doch wer weiß: Vielleicht würden Programm und Vergünstigungen dazu führen, dass eine viel dringlichere Forderung der Hinterbliebenen erfüllt wird: Aufklärung. Womöglich holen Zschäpe und André E. ja in Dresden nach, was sie in München verweigert hatten. Und liefern neue Einblicke in die organisierte Neonazi-Szene sowie deren Verstrickung mit dem Verfassungsschutz.

Vorwürfe an Arbeit des Verfassungsschutzes

Denn auch das gehört zu den unbeantworteten Fragen: Inwieweit haben die Verfassungsschützer die Aufklärung behindert, um ihre V-Leute in der Szene zu schützen und eigenes Versagen zu kaschieren? Die Nebenklägerin Antonia von der Behrens, die die Familie des NSU-Opfers Mehmet Kubasik aus Dortmund vertreten hat, hat eine eindeutige Haltung: "Nach meiner Auffassung hat der Verfassungsschutz – und das können wir in vielen Punkten nachweisen – hier systematisch versucht, die Aufklärung zu behindern."

Nach meiner Auffassung hat der Verfassungsschutz – und das können wir in vielen Punkten nachweisen – hier systematisch versucht, die Aufklärung zu behindern.

Antonia von der Behrens, Nebenklägerin im Prozess

Das habe schon vor dem 4. November angefangen, betonte von der Behrens. "Da sind wesentliche Akten irregulär vernichtet worden. Von V-Männern, die sehr sicher Kontakt zum NSU und seinem Unterstützerumfeld hatten." Der 4.11.2011 war der Tag, an dem der NSU aufflog. Wurden also Ermittlungen behindert? Hätten einige Morde verhindert werden können? Fragen über Fragen, meint auch der Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler. "Welche Rolle haben unsere Geheimdienste gespielt? Welche Rolle haben V-Leute gespielt? Was haben die gewusst? Und ich glaube, da sind große Fragen offen geblieben. Und diese Fragen sollten uns alle interessieren, nicht nur die Opferangehörigen!"

Immerhin: Der Dresdner Prozess erinnert daran, dass es hier noch keine Antworten gibt. Die Schuldfrage der NSU-Unterstützerin Susann E. dürfte er beantworten. Und alle weiteren wenigstens wieder auf die Tagesordnung setzen.

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