Die Frau lag blutend am Boden, sie atmete noch, als die Sanitäter eintrafen. Gerettet werden konnte sie nicht mehr. Stefanie W. starb am 2. Januar dieses Jahres in ihrer Loftwohnung in Hamburg-Groß Borstel an mehreren Messerstichen. Drei davon verletzten die 38-Jährige, die als Managerin bei Lufthansa Technik arbeitete, am Hals. Ermittler nahmen kurz nach der Tat ihren Ehemann Derek W. fest.
Er hatte in der gemeinsamen Küche ein Messer aus dem Messerblock gezogen, zugestochen und war dann mit dem dreijährigen Sohn des Paares aus der Wohnung geflüchtet. Das Hamburger Landgericht verurteilte den Deutschamerikaner Anfang Oktober zu 13 Jahren und 6 Monaten wegen Totschlags. Dieser Fall steht konträr zur Debatte der letzten Wochen, die sich stark auf die Sicherheit im öffentlichen Raum verengte. Und es stimmt ja, die Probleme im sogenannten Stadtbild gibt es – gerade in Ballungszentren, gerade nach Einbruch der Dunkelheit, gerade für die von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) adressierten „Töchter“.
Gewalttaten im öffentlichen Raum haben in den vergangenen fünf Jahren um etwa 20 Prozent zugenommen. 2023 wurden laut Bundeskriminalamt rund 52.000 Frauen und Mädchen Opfer von Sexualdelikten. Der Anteil ausländischer Tatverdächtiger lag mit 34 Prozent mehr als doppelt so hoch wie ihr Bevölkerungsanteil. Hinzu kommt ein wachsendes Unsicherheitsgefühl – etwa durch Männergruppen, die Parks und Plätze dominieren. Laut einer Umfrage von Infratest fühlt sich jede zweite Frau im öffentlichen Raum inzwischen unwohl.
Doch dieser Blick auf den öffentlichen Raum greift zu kurz. Im vertrauten Umfeld – dem eigenen Heim – lauert eine andere Gefahr. Für viele Frauen ist das Zuhause längst kein Zufluchtsort mehr. Über zwei Drittel aller Gewaltdelikte geschehen hinter verschlossenen Türen, im familiären Nahbereich. 308 Frauen und Mädchen wurden im vergangenen Jahr Opfer von Mord, Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge – fast eine pro Tag. Der Trend hält seit Jahren an.
Auch aktuelle Zahlen des Bundeskriminalamts bestätigen die Entwicklung: 265.942 Opfer häuslicher Gewalt wurden im vergangenen Jahr registriert – ein neues Allzeithoch, wie eine Recherche dieser Zeitung im August zeigte. Vier von fünf Betroffenen sind Frauen. Gegenüber dem Vorjahr stieg die Zahl um 3,7 Prozent, in den vergangenen fünf Jahren um fast 14 Prozent.
Auf regionaler Ebene zeigt sich das Ausmaß noch deutlicher. In Nordrhein-Westfalen registrierte die Polizei 2024 über 66.000 Opfer häuslicher Gewalt – ein Plus von knapp zwei Prozent. Mehr als 70 Prozent der Betroffenen waren Frauen, über die Hälfte lebte mit dem Täter im selben Haushalt. Die niedersächsische Innenministerin Daniela Behrens (SPD) sagte dieser Zeitung: „Die steigenden Zahlen bei häuslicher Gewalt machen mir große Sorgen.“ Auch das Innenministerium Baden-Württemberg spricht von einem „anhaltend hohen Niveau“, während die ostdeutschen Länder teils deutliche Anstiege melden: In Sachsen-Anhalt stiegen die Fälle um mehr als fünf Prozent, in Thüringen verzeichnen die Behörden eine „starke Zunahme“, in Sachsen einen neuen Höchststand.
Politisch reagieren die Länder mit unterschiedlichen Methoden, um weibliche Opfer besser zu schützen. Hessen hat die elektronische Fußfessel eingeführt. Standortdaten des Trägers werden mit dem Standort der gefährdeten Person abgeglichen, und bei einer Annäherung wird Alarm ausgelöst. Mehrere Innenministerien betonen zugleich, dass Technik allein nicht genüge: Entscheidend seien frühe Risikoanalysen, konsequente Strafverfolgung und der Ausbau von Frauenhäusern.
Einige Experten fordern auch, die (partnerschaftliche) Gewalt gegen Frauen mit dem Begriff „Femizid“ sichtbarer zu machen und strafrechtlich härter zu verfolgen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Femizid knapp als allgemeine Bezeichnung vorsätzlicher Morde an Frauen, weil sie Frauen sind. Gekennzeichnet sind diese Fälle laut WHO durch ein strukturelles Machtgefälle zwischen Mann und Frau. Der Begriff soll die Aufmerksamkeit für diese Art der Tötungsdelikte schärfen. In Ländern wie Mexiko und Argentinien ist der Begriff etabliert. Taten, die in dieses Raster fallen, werden gesondert registriert und bestraft.
In Deutschland gibt es bisher kein offizielles Monitoring von Femiziden. Der Begriff taucht auch nicht als eigenständiger Straftatbestand in der Kriminalstatistik auf. Im Sprachgebrauch vieler Politiker und Organisationen hat sich „Femizid“ dagegen etabliert. Auch das BKA verwendet die Kategorie in seinem jüngsten Lagebild zur Gewalt gegen Frauen. Die Behörde listet dabei alle 360 vollendeten Tötungsdelikte an Frauen und Mädchen des Jahres 2023 darunter auf – unabhängig vom Ablauf der Tat und dem Angreifer. Diese Unschärfe fiel auch in Wiesbaden auf: Das BKA hat kürzlich eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet, um dem Bedarf an einer bundeseinheitlichen, polizeilichen Definition des Begriffs „Femizid“ nachzukommen. „Mit Ergebnissen ist voraussichtlich im Laufe des ersten Halbjahres 2026 zu rechnen“, teilte eine Sprecherin mit.
Auch auf politischer Ebene gewinnt der Schutz von Frauen neue Dringlichkeit. So haben die Justizminister der Länder im Frühjahr die Bundesministerin gebeten zu prüfen, ob der Mordparagraf um das Merkmal der „trennungs- und geschlechtsspezifisch motivierten Tötungen“ ergänzt werden könne. Damit würden die Tötungen von Frauen häufiger als Mord und nicht als Totschlag eingestuft. „Wir werden uns den Mordparagrafen noch einmal ansehen und prüfen, ob wir Frauen noch besser schützen können“, sagte Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) Anfang Oktober dieser Zeitung.
Sie bremste aber auch die Erwartungen: „Eine Änderung des Mordparagrafen ist sehr anspruchsvoll. Das will genau überlegt sein.“ Hubigs Haus hatte zuletzt eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht, um Frauen effektiver zu schützen – von der Einführung der elektronischen Fußfessel über verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter sowie schärfere Sanktionen von Familiengerichten bis zum Entzug des Sorge- und Umgangsrechts für gewalttätige Väter.
Die Zahlen zeigen: Gewalt gegen Frauen findet nicht nur im öffentlichen Raum statt – sie ist vor allem ein oft verborgenes Problem im familiären Nahbereich, bei dem Rechte, Schutzmechanismen und Prävention bisher nicht ausreichen.
Korrespondent Philipp Woldin hat sich in seinem Buch „Neue Deutsche Gewalt. Wie unsicher unser Land wirklich ist“ (C. H. Beck), das er gemeinsam mit WELT-Investigativreporter Alexander Dinger geschrieben hat, intensiv mit den Veränderungen im öffentlichen Raum auseinandergesetzt.
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