Elftausend Kilometer und 13 Grad Temperaturunterschied trennen Iberson Raul Martinez von seiner Heimat Kolumbien, als er an einem nassgrauen Morgen durch einen matschigen Graben läuft. Er trägt eine Uniform, auf der ein ukrainisches Abzeichen prangt, und in den Händen ein Sturmgewehr AK 47, mit dem er in die Gänge vor ihm feuert. „Komm, komm, komm!“, ruft von oben ein ukrainischer Ausbilder auf Spanisch, während ein anderer Rekrut eine Plastik-Granate in den Graben wirft.

Martinez, 29, Vater eines Sohnes, bekämpfte in seiner Heimat in den vergangenen Jahren Kriminelle. Jetzt bereitet er sich mit einer Gruppe von Landsleuten auf seinen ersten Fronteinsatz in der Ukraine vor. WELT hat sie beim Training auf einem Geheimgelände im Nordosten besucht. Etwa 2000 Kolumbianer sind laut ukrainischen Angaben bislang eingereist, um als Vertragssoldaten gegen Putins Truppen zu kämpfen.

Der Zulauf ist so groß, dass Brigaden einzelne Kompanien ausschließlich aus Südamerikanern bilden. Martinez gehört zu einer Infanterieeinheit der 47. Brigade, die überwiegend aus kolumbianischen Kämpfern besteht.

Es seien aber auch ein paar Chilenen und Brasilianer dabei, sagt der ukrainische Kommandeur der Truppe, Deckname „Musikant“. „Am einfachsten ist die Arbeit, wenn alle entweder Spanisch oder Ukrainisch sprechen, denn sonst brauchen wir mehr Ausbilder und insgesamt viel mehr Zeit.“ Vor Russlands Überfall auf sein Land brachte „Musikant“ ukrainischen Kindern das Klavierspielen bei – jetzt bildet er Südamerikaner an der Waffe aus.

Kurz nach Kriegsausbruch im Februar 2022 hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Menschen aus aller Welt aufgerufen, sich am Kampf gegen Putins Truppen zu beteiligen. Seitdem haben sich allein den Landstreitkräften rund 8000 Freiwillige aus Dutzenden Nationen angeschlossen, darunter auch Männer aus Deutschland.

Das berichtete die ukrainische Plattform „Hromadske“ im August unter Berufung auf ukrainische Militärangaben. Demnach kommen rund 40 Prozent der eingereisten Kämpfer aus Südamerika. Viele ausländische Rekruten sind Teil der Internationalen Legion, einer Teileinheit innerhalb der ukrainischen Armee.

Anfangs war die Auswahl streng: Nur wer militärische Vorerfahrung mitbrachte, durfte bleiben. Mittlerweile hat die Ukraine die Anforderungen gelockert. „Viele kommen völlig ohne militärische Erfahrung. Aber es gibt auch welche, die zuvor bei den kolumbianischen Spezialeinheiten oder der Polizei in Kolumbien oder Brasilien gedient haben – doch das sind nur wenige“, sagt Kommandeur „Musikant“. Mindestens einen Monat bilde er seine Rekruten aus, bevor sie zu ersten Einsätzen aufbrechen.

Da die meisten Südamerikaner als Infanteristen kämpfen, sind sie für die Ukraine aktuell wichtiger denn je. Nach knapp vier Jahren Krieg hat die Armee einen existenziellen Mangel an Frontsoldaten. Die Mobilisierung gilt weiterhin erst ab 25 Jahren. Das staatliche Programm, jüngere Männer ab 18 mit hohen Prämien als Rekruten zu locken, hat nur überschaubaren Erfolg. Dazu trägt auch die Entscheidung in diesem Sommer bei, 18- bis 22-Jährigen wieder die Ausreise aus dem Land zu ermöglichen.

All das führt dazu, dass Russlands Truppen in manchen Frontabschnitten personell um ein Vielfaches überlegen sind und unter enormen Verlusten langsam vorrücken. Ein ukrainischer Kommandeur in der Oblast Donezk sagte WELT im vergangenen Jahr, das Verhältnis in seinem Abschnitt liege etwa bei eins zu sieben. Auf einen Ukrainer kommen also sieben Russen. Trotz der rasanten Fortschritte in der Drohnenkriegsführung – in der Luft und am Boden – sind es weiterhin Menschen, die Stellungen erobern und halten.

Auch Russland – im Widerspruch zu den eigenen Ansprüchen als Großmacht – ist von Unterstützung aus dem Ausland abhängig. Während der Iran Raketen und China massenweise Bauteile für Drohnen an Moskau liefert, schickte Nordkoreas Diktator Kim Jong-un im vergangenen Jahr bis zu 15.000 seiner Landsleute. Sie kamen vor allem beim Kampf um die russische Region Kursk zum Einsatz, wo die Ukraine in einer überraschenden Offensive temporär weit vorgedrungen war.

In ukrainischen Gefängnissen sitzen auch Dutzende Männer aus dem Nahen Osten und Afrika, die als Söldner für Russland kämpften und in Gefangenschaft geraten sind. Im eigenen Land rekrutiert die russische Armee weiterhin bis zu 30.000 Männer pro Monat und kann damit die personellen Verluste ausgleichen, wenn nicht sogar neue Einheiten aufbauen.

Es ist Mittag auf dem Trainingsgelände im Nordosten der Ukraine, als sich eine Gruppe von Kolumbianern auf einem weiten Feld in Stellung bringt. Sie halten das Gewehr im Anschlag, als eine Drohne auf sie zurast, an der ein gelber Ballon statt Sprengstoff befestigt ist. „Feuer, Feuer!“, ruft ein ukrainischer Ausbilder, während die Drohne Ausweichmanöver fliegt.

Der Abschuss der Fluggeräte, die häufig nur noch wenige Hundert Euro kosten, entscheidet oft über Leben oder Tod. „Um eine Stellung zu erreichen, braucht man heute die Fähigkeiten, feindliche Drohnen abzuschießen. Man muss sich tarnen können, unbemerkt bleiben, sich schnell bewegen – und idealerweise die eigene Position unversehrt erreichen“, erklärt „Musikant“.

Natürlich sei er vor seinem ersten Fronteinsatz aufgeregt, sagt Martinez, der in diesem Herbst in die Ukraine gekommen ist. Aber er werde gut vorbereitet, sagt er. Es sei „ein Vergnügen, hier zu sein und die Ukraine zu unterstützen“. Sein Sohn und seine Frau seien jedoch die größte Motivation für die Entscheidung gewesen, sich zu verpflichten. Mit dem Geld, das er an der Front verdient, möchte er in Kolumbien „ein eigenes Stück Land kaufen, mein Haus bauen und dort mit meinem Sohn und meiner Familie leben“.

Für den 37 Jahren alten Oliver ist es bereits der zweite Kampfeinsatz in der Ukraine in diesem Jahr. „Ich bin über soziale Medien hierhergekommen. Beim ersten Mal, weil ich Videos gesehen habe, die zum Mitmachen aufriefen.“ Er habe gedient, Geld verdient, sei nach sechs Monaten nach Kolumbien zurückgekehrt – und nun wiedergekommen. „Zum einen, weil es mir gefällt. Zum anderen aus wirtschaftlichen Gründen.“

In Kolumbien sei der Sold für Soldaten extrem gering, erklärt Oliver, der in seiner Heimat 14 Jahre lang gedient hat. In der Ukraine verdienen Frontsoldaten gewöhnlich knapp 3000 Euro pro Monat. Anders als ukrainische Soldaten können ausländische Rekruten ihren Vertrag jederzeit auflösen.

Zwar gebe es auch Kolumbianer, die nach dem ersten Einsatz aufhören, aber das sei die Ausnahme, sagt Kommandeur „Musikant“. „Meine Kämpfer erfüllen ihre Aufgaben – und das sehr erfolgreich. Ich versuche ihnen zu vermitteln, dass sie hier etwas Großes leisten, etwas, das uns alle betrifft.“

Manche seiner Landsleute kämen nur für ein paar Monate, andere für ganze drei Jahre, was oft die vereinbarte Vertragslänge ist, sagt Martinez. „Ich werde so lange bleiben, wie ich kann.“

Lange zu bleiben bedeutet zuallererst: überleben. Hunderttausende Soldaten sind in diesem Krieg bereits gefallen, auf beiden Seiten.

Oliver, Vater von zwei Töchtern im Schulalter, hat für Zeit nach seinem Kampfeinsatz schon genaue Pläne. Er werde nach Kolumbien zurückkehren – „Und dann möchte ich einfach nur die Zeit mit meiner Familie und meinen Kindern genießen und den Krieg hinter mir lassen.“

Ibrahim Naber ist seit 2022 WELT-Chefreporter. Er berichtet regelmäßig von der Front in der Ukraine sowie aus anderen Kriegs- und Krisengebieten.

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