Kulturstaatsminister Wolfram Weimer (parteilos) hat die aktualisierte Fassung des „Gedenkstättenkonzepts des Bundes“ vorgelegt. Das Dokument, das die Leitlinien der deutschen Erinnerungspolitik sowie die wichtigsten Gedenkstätten und erinnerungspolitischen Institutionen als Förderschwerpunkte definiert, liegt somit seit Einführung im Jahr 1999 in seiner dritten Fassung vor. Es liegt WELT und „Politico“ vor.

Deutsche Kolonialverbrechen kommen darin weiterhin nicht vor. Die Schwerpunkte des Konzepts bleiben die Verbrechen der Deutschen im Nationalsozialismus sowie das Unrecht der SED-Diktatur. Es gilt weiterhin die als „Faulenbach-Formel“ bekannte Regel für den Umgang mit dem Erbe der zwei deutschen Diktaturen: Weder dürften die nationalsozialistischen Verbrechen relativiert oder gar geleugnet, noch dürfe das von der SED-Diktatur verübte Unrecht bagatellisiert werden. So steht es im Konzept.

Neu ist unter anderem, dass Vandalismus in KZ-Gedenkstätten als Problem thematisiert wird. „Der Vandalismus in den Einrichtungen und die Gewalt gegen Sachen haben insbesondere in den Gedenkstätten zur Erinnerung an NS-Verbrechen in erschreckendem Ausmaß zugenommen. Zerstörung und Beschmieren von Ausstellungen und Räumlichkeiten, Brandanschläge, aber auch das Absägen von Gedenkbäumen oder der Diebstahl von KZ-Toren lassen eine neue Qualität der Respektlosigkeit, ja Verachtung gegenüber den Orten des Terrors und der Entrechtung deutlich werden.“ Auch die Täter benennt das Konzept: Sie stammten „überwiegend aus dem rechtsextremen und neurechten Milieu oder sympathisieren mit ihm“.

Das Papier stellt zudem fest: Es sei auch notwendig, „Gedenkstätten vor politischen Einflussnahmen zu schützen und ihre Unabhängigkeit zu sichern“. Gedenkstätten müssten sich auf „Störungen und Angriffe vorbereiten“.

Neu ist auch, dass das Konzept unter der Überschrift „Vermittlungsarbeit in der Migrationsgesellschaft“ Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft konkret benennt. „Oftmals sind die Gewalterfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus und der kommunistischen Diktatur in Deutschland nicht Teil der eigenen Familienerzählung“, heißt es dazu im Dokument.

„Zugleich aber haben viele der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationsgeschichte in der Familie Bezüge zu Ländern, die vom Nationalsozialismus betroffen waren, sei es als besetzte Länder in ganz Europa und Nordafrika oder als Länder, die mit dem nationalsozialistischen Deutschland verbündet waren.“ Viele Menschen mit biografischen Bezügen insbesondere nach Israel, Mittel-, Südost- und Osteuropa sowie zum postsowjetischen Raum verfügten zudem über einen „biografischen Bezug zu Opfern nationalsozialistischer Aggressions- und Vernichtungspolitik oder zu stalinistischen Verbrechen oder zu beiden“.

Angehörige von im Nationalsozialismus verfolgten Minderheiten hätten „eigene Perspektiven auf die Geschichte und mussten oft eine mehrfache Verfolgungserfahrung durchleben“, heißt es in dem Dokument. Es nennt Juden, Sinti und Roma, aber auch Nachkommen von ehemals politisch Verfolgten, Widerstandskämpfern, von zur Zwangsarbeit Verschleppten oder von Personen, „die als ‚Gemeinschaftsfremde‘ verfolgt“ worden sind. Diese Perspektiven, so das Konzept, seien oft „von jahrzehntelangem innerfamiliärem Schweigen und von Scham, aber auch von gegenwärtigen Diskriminierungserfahrungen geprägt“. Sie müssten „hörbar gemacht, moderiert, teilweise auch kontextualisiert werden“.

Zu Kriegsflüchtlingen und anderen Flüchtlingsgruppen in Deutschland heißt es im Konzept: „Auch Menschen mit eigenen Gewalt-, Kriegs-, Flucht- und Migrationserfahrungen haben konkrete Anknüpfungspunkte zu den in den Gedenkstätten erzählten Geschichten von Flucht, Vertreibung und Verfolgung.“ Gedenkstätten könnten hier einen wertvollen Beitrag zu einem historisch-kritischen Geschichtsbewusstsein leisten.

Grüne werfen Weimer ideologische Motivation vor

Weimer hat mit Vorlage seines Gedenkstättenkonzepts auch eine langjährige Kontroverse beendet, die auf seine Amtsvorgängerin Claudia Roth (Grüne) zurückgeht. Sie hatte vor Weimer eine Aktualisierung des Dokuments angestrebt. Dabei wollte sie den Fokus auf Gedenkstättenförderung abschwächen und das Konzept um einen zusätzlichen Fokus auf Deutschlands Kolonialverbrechen ergänzen. Nach Kritik an Roths ursprünglichem Entwurf begrüßten erinnerungspolitische Akteure ihre Neufassungspläne.

Jörg Ganzenmüller, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten zur Diktatur in SBZ und DDR, hatte Roths Pläne im vergangenen Jahr im Bundestag wie folgt kommentiert: „Es wird gesagt, es geht nicht darum, die NS-Verbrechen zu relativieren und das SED-Unrecht zu bagatellisieren. Die kolonialen Verbrechen sollen nicht länger ignoriert werden.“ Die Kolonialzeit kommt im nun vorgelegten Konzept nur im Kontext der Erforschung der Herkunft musealen Sammlungsguts „aus kolonialen Kontexten“ vor.

Der SPD-Kulturpolitiker Helge Lindh sagt WELT, Ausgangspunkt der Neukonzeption seien „heftige Debatten“ zu Ampel-Zeiten gewesen. „Neben fachlichen Fragen bestand insbesondere die Sorge von NS- und SED-Gedenkstätten, dass ihre Finanzierung und Relevanz infrage gestellt würde“. Entscheidend sei, „dass wir Erinnerung an NS-Unrecht, SED-Verbrechen und die kolonialen Gewalttaten nicht als Konkurrenz verstehen oder gegeneinander verrechnen.“ Eine „formale Begründung“ dafür, warum Kolonialverbrechen im neuen Konzept fehlen, sei, dass „die Orte der Verbrechen im Fall Kolonialismus insbesondere in den kolonisierten Gebieten und nicht im deutschen Einzugsbereich lagen“. Im schwarz-roten Koalitionsvertrag steht, dass ein „würdiger Erinnerungsort“ für den Kolonialismus errichtet werden sollte.

Kritik äußert die Grünen-Abgeordnete und zuständige Sprecherin für Erinnerungskultur ihrer Fraktion, Marlene Schönberger. Weimers Vorgängerin Roth habe nach intensivem Austausch mit Praktikern der Gedenkstättenlandschaft „einen Vorschlag vorgelegt, bei dem letztendlich alle an Bord waren. Ideologisch motiviert wickelt Weimer diesen erfolgreichen Schulterschluss nun ab“, so Schönberger.

Sie betont: „Über 17 Jahre lang wurde die Gedenkstättenkonzeption nicht novelliert.“ Die „plötzliche Eile“, also „ein Kabinettsbeschluss statt eines integrativen Prozesses“ mit allen Beteiligten, verwundere sie. „In einer Zeit, in der erstmals eine Mehrheit einen Schlussstrich unter die Erinnerung an den Nationalsozialismus ziehen will, Gedenkstätten massiv unter Druck stehen und sich die Erinnerung an die deutschen Kolonialverbrechen erst im Aufbau befindet, ist das fatal.“ Die Auseinandersetzung mit den deutschen Kolonialverbrechen müsse als „dritte Säule der Erinnerungskultur verankert werden – ohne finanzielle Abstriche bei den anderen beiden Säulen“.

Hierzu gibt es innerhalb der SPD-Fraktion Überlegungen. Lindh sagt, neben hinreichender „Finanzierung und strukturierten Prozesse für Repatriierung und Restitution von kolonialem Raubgut“ sollte ein Konzept oder ein Plan entwickelt werden, wie man Gedenkorte zum Thema Kolonialismus dezentral und auch zentral entwickelt könnte.

Uneingeschränkt begrüßt wird Weimers Gedenkstättenkonzept vom Zentralrat der Juden in Deutschland. Dieses sei „ein wichtiges und ein notwendiges Zeichen“, sagt Zentralratspräsident Josef Schuster „Politico“. „Der klare Fokus auf die Verbrechen der NS-Diktatur und der Schwerpunkt auf den singulären Zivilisationsbruch der Schoa senden dabei angesichts der aktuellen Herausforderungen und der Bedrohung jüdischen Lebens durch den wieder aufkeimenden Antisemitismus das richtige Signal.“ Der Erhalt der historischen Orte, die Digitalisierung der Inhalte sowie der „verstärkte Fokus auf Vermittlung“ seien Aktualisierungen, „die der zunehmenden zeitlichen Ferne zur Schoa Rechnung tragen und einem Verblassen oder Verwischen der Erinnerung entgegenwirken können“.

Jan Alexander Casper berichtet für WELT über die Grünen und gesellschaftspolitische Themen.

Rixa Fürsen ist Head of Podcast „Politico“ Deutschland.

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