„Wenn ich mit Europa telefonieren will, wen muss ich anrufen?“, lautet ein berühmtes Bonmot von Henry Kissinger, dem berühmtesten außenpolitischen Berater amerikanischer Präsidenten des 20. Jahrhunderts. Im 21. Jahrhundert stellt sich die Frage ganz anders: Alle wichtigen europäischen Politiker riefen am Freitag ihrerseits Washington an. Sie hatten alle das gleiche Anliegen. Sie wollten mit Donald Trump über dessen „Friedensplan“ sprechen, den der am Donnerstag völlig überraschend veröffentlicht hatte und der sich in weiten Teilen wie ein Kapitulationsdokument der Ukraine liest.
Doch der amerikanische Präsident ließ die Europäer schmoren, beantwortete stundenlang keine Anrufe vom alten Kontinent, bis um 19 Uhr mitteleuropäischer Zeit endlich einer durchgestellt wurde: Friedrich Merz. Der deutsche Kanzler war noch im Sauerland, seiner Heimatregion, von wo er nach Köln und dann zum G-20-Gipfel im südafrikanischen Sauerland aufbrechen wollte.
Angekommen in Südafrika stellte der Kanzler die Position, die er Trump am Telefon erläutert habe, so dar: „Eine Beendigung des Krieges kann es natürlich nur geben, wenn es eine uneingeschränkte Zustimmung der Ukraine gibt. Kriege können nicht beendet werden, durch Großmächte über die Köpfe der betroffenen Länder hinweg.“ Außerdem sei die Zustimmung der Europäer notwendig: „Wenn die Ukraine diesen Krieg verlieren sollte und möglicherweise kollabiert, dann hat das Auswirkungen auf die gesamte europäische Politik, auf den gesamten europäischen Kontinent.“
Während Merz die Nacht im Flugzeug verbracht hatte, war ein mit den wichtigsten Verbündeten abgestimmtes Dokument nach Washington übermittelt worden. Die Europäer hatten sich am Vortag entschieden, dem Trump’schen Friedensplan keine eigene Alternative entgegenzustellen. Stattdessen überarbeiteten sie die 28 Punkte der Amerikaner und schickten ihre Änderungswünsche ein.
Dabei hatten die Vorschläge Trumps echtes Entsetzen ausgelöst. Die Ukraine soll nicht nur noch mehr Territorium aufgeben als Russland sowieso schon besetzt hält. Außerdem sollen strategisch wichtige Städte an die Invasoren übergeben werden und die ukrainische Armee halbiert – nicht nur ein Siegfrieden für Russland, sondern auch ein Sprungbrett für die Einnahme der Restukraine. Von den in Europa eingefrorenen Milliarden der russischen Staatsbank möchten sich die USA gerne knapp 100 Milliarden überweisen lassen. Ein Satz – die USA wollten künftig zwischen der Nato und Russland vermitteln – liest sich, als gehörten sie schon nicht mehr zum westlichen Bündnis.
Ein Text wie aus der Feder Moskaus. Warum Trump ihn sich zu eigen machte, löste in Europa Rätselraten aus. Mancher vermutet, der innenpolitisch angeschlagene Präsident versuche ein neues Fernsehereignis zu schaffen: Schon am Donnerstag soll der Friedensvertrag in den USA unterschrieben werden. Damit könnte die von Trump monatelang, aber letztlich vergeblich verhinderte Veröffentlichung der Ermittlungsakten über den Sexualstraftäter und ehemaligen Trump-Freund Jeffrey Epstein als Spitzenmeldung aus den Nachrichten gedrängt werden.
Ob die Europäer auch zum großen Friedensschluss eingeladen werden, ist unklar. Indem sie den aus ihrer Sicht unzumutbaren Trump’schen Plan nicht einfach verwarfen, sondern Änderungen einschickten, wollten sie Teil eines Verhandlungsprozesses werden, um doch noch günstigere Bedingungen für die Ukraine zu erreichen. Und tatsächlich: Am Sonntag treffen sich in Genf die außenpolitischen Berater der wichtigsten europäischen Staats- und Regierungschefs mit ihrem amerikanischen und ukrainischem Pendant. Für Merz verhandelt Günter Sautter, der Leiter der außenpolitischen Abteilung im Kanzleramt, der kaum in Südafrika angekommen schon wieder zurück nach Europa fliegen musste.
Ob es auf diese Weise tatsächlich noch gelingen kann, einen Friedensplan zu schaffen, dem die Ukraine zustimmen kann? In Johannesburg klang Merz skeptisch: „Wir sind von einem gemeinsamen, guten Ergebnis noch ziemlich weit entfernt.“
Robin Alexander ist stellvertretender Chefredakteur.
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