Kaum ein humanitärer Akteur steht so oft in der Kritik wie die UNRWA, das Palästinenser-Hilfswerk der Vereinten Nationen. Die UN-Organisation sieht sich als stabilisierender Bestandteil der Versorgungssysteme vor allem in Gaza und im Westjordanland – aber auch im Libanon, in Syrien und Jordanien. Deutschland, größter Geldgeber der UNRWA im Jahr 2024, hat sich vergangene Woche erstmals in seiner Geschichte bei einer Abstimmung zur Verlängerung des UNRWA-Mandats in der UN-Generalversammlung enthalten. WELT sprach darüber mit Roland Friedrich, Leiter der UNRWA im Westjordanland.

WELT: Herr Friedrich, warum bleibt der wichtigste Geldgeber der UNRWA skeptisch?

Roland Friedrich: Zunächst sind wir sehr dankbar für die Unterstützung der Bundesrepublik. Wir stehen in engem Austausch über unsere Reformen und haben dabei gute Fortschritte erzielt. Die verbleibenden Bedenken verfolgen wir im Sinne der bestehenden Partnerschaft. Gleichzeitig sehen wir uns einer systematischen Desinformationskampagne ausgesetzt – dabei geht es weniger um UNRWA selbst, sondern um politische Bestrebungen, die Palästina-Flüchtlingsfrage einseitig zu verschieben – und in diese Debatte wird das Hilfswerk hineingezogen. Das ist bedauerlich. Unser Bekenntnis zu den Reformen bleibt jedoch eindeutig.

WELT: Kritiker halten der UNRWA jedoch vor, dass sie in Teilen von Hamas-Elementen unterwandert ist.

Friedrich: Für uns ist klar: Es gibt in der UNRWA keinen Platz für Terrorismus. Vorwürfe prüfen wir ausführlich und ziehen nötige Konsequenzen. Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, der höchsten Rechtsinstanz der Vereinten Nationen, stellte zudem fest, dass es keine Belege für eine gezielte Unterwanderung der UNRWA durch die Hamas gibt oder dass das Hilfswerk gegen humanitäre Grundsätze der Unparteilichkeit und Neutralität verstoßen habe. Insofern setzen wir unsere Reformen konsequent fort und besprechen die Fortschritte eng auch mit der Bundesregierung.

WELT: Können Sie den aktuellen Zustand der Reformen kurz skizzieren?

Friedrich: Die UNRWA verfolgt einen umfassenden Reformplan mit 50 Aktionspunkten, die sich aus dem Colonna-Bericht ergeben. Das betrifft vor allem strengere Kontroll- und Aufsichtsstrukturen, Neutralitätsprüfungen unserer Einrichtungen und Reformen im Bildungsbereich, ergänzt durch Programme zur Förderung von Frauenrechten. Man muss dabei sehen: Die Bedingungen in den fünf Einsatzgebieten der UNRWA, das Westjordanland inklusive Ostjerusalem, Gaza, Jordanien, Libanon und Syrien, unterscheiden sich stark. Aber die bestehenden Mechanismen der UNRWA sind „robust“, wie der Colonna-Bericht bestätigt hat. Diese Mechanismen werden nun weiter ausgebaut. Beispielsweise überprüfen wir unsere Einrichtungen im Westjordanland inzwischen vierteljährlich auf mögliche Neutralitätsverstöße.

WELT: Führen Sie solche Überprüfungen auch im Gaza-Streifen durch?

Friedrich: Selbstverständlich. Gaza ist jedoch ein Sonderfall. Viele unserer Einrichtungen sind zerstört oder dienen als Notunterkünfte. Wir sehen dort Neutralitätsverstöße sowohl durch Hamas als auch durch israelische Streitkräfte. Im Westjordanland betreffen Verstöße hingegen ausschließlich israelische Kräfte, weil die Hamas dort nicht präsent ist.

WELT: Ein zentraler Kritikpunkt an der UNRWA betrifft das Personal. Welche Reformen setzen Sie dort konkret um?

Friedrich: Wir haben die Sicherheitsüberprüfungen ausgeweitet: Social-Media-Checks, engere Zusammenarbeit mit den Behörden der Sitzstaaten und regelmäßige Prüfungen nicht nur bei Einstellungen, sondern auch bei Beförderungen oder Versetzungen. Zudem haben wir zusätzliches Personal eingesetzt, das kontrolliert, wie unser Umgang mit sogenannten kontroversen Inhalten in der Praxis umgesetzt wird.

WELT: Was stufen Sie als kontrovers ein?

Friedrich: Grundsätzlich nutzen wir keine UNRWA-Schulbücher, sondern die Lehrbücher der jeweiligen Sitzstaaten, die regelmäßig durch die Vereinten Nationen überprüft werden. Etwa fünf Prozent der Inhalte der palästinensischen Lehrbücher gelten als kontrovers – etwa wegen Fragen der Geschlechterrollen, Altersangemessenheit oder möglicher Neutralitätsverstöße.

WELT: Das heißt: auch Inhalte, die zur Gewalt aufrufen?

Friedrich: Ja. Sämtliche Inhalte, die als kontrovers gelten, werden nicht gelehrt. Zum Beispiel haben wir in diesem Schuljahr die Geschichte von Dalal Mughrabi aus dem Arabischunterricht für das fünfte Schuljahr gestrichen – sowohl im Westjordanland als auch im Gaza-Streifen (Mughrabi war 1978 an einem Angriff auf einen israelischen Bus beteiligt; dabei starben 38 Zivilisten, darunter 13 Kinder, und sie selbst. Sie wird in Teilen der palästinensischen Gesellschaft als Märtyrerin verehrt, in Israel und international gilt sie als Terroristin; Anm. d. Red.). An UNRWA-Schulen verfolgen wir einen Lehrplan für Menschenrechte und fördern kritisches Denken. Die palästinensischen Lehrbücher werden derzeit reformiert, auf Druck und mit Unterstützung der Europäischen Union. Wir werden die neuen Materialien vollständig übernehmen. Zugleich gibt es viel Desinformation über unseren Unterricht. Unsere Schulen – sowohl im Westjordanland als auch im Gaza-Streifen – sind keine Brutstätten von Extremismus. Ganz im Gegenteil: Alle Inhalte werden auf ihre Vereinbarkeit mit den Unesco-Standards überprüft, und kontroverse Passagen dürfen nicht gelehrt werden.

WELT: Kritiker sind der Ansicht, die UN-Organisation habe über Jahrzehnte einen maßgeblichen Anteil daran gehabt, Palästinenser zu radikalisieren.

Friedrich: Kinder, die dauerhaft militärischer Gewalt ausgesetzt sind, die täglich Checkpoints passieren müssen oder den Verlust von Familienangehörigen erleben – diese Kinder brauchen keine Lehrbücher, um traumatisiert oder für Radikalisierung empfänglich zu werden. Unsere Schulen bieten ihnen vielmehr einen geschützten Raum mit Stabilität und Routine. Das ist die Grundlage dafür, dass sie ihre Traumata langfristig verarbeiten und hoffentlich irgendwann in Frieden aufwachsen können. Gerade in Gaza standen unsere Schulen immer wieder in der Kritik der Hamas, weil wir Jungs und Mädchen gemeinsam unterrichten oder angeblich „westliche Werte“ vermitteln. Radikalisierung findet vor allem in Einrichtungen statt, die unter Kontrolle der de-facto-Behörden oder religiöser Gruppen stehen – nicht in unseren. Es gibt zahlreiche anderslautende Pauschalisierungen, die auf Desinformationen in den sozialen Medien beruhen, die nicht im Geringsten UNRWA-Schulen zeigen.

WELT: Nach zwei Jahren Militäraktionen in Gaza: Wie steht es um die Bildungssituation dort?

Friedrich: Im Gaza-Streifen haben rund 600.000 Kinder seit fast zwei Jahren keinen regulären Unterricht mehr erhalten. Etwa die Hälfte von ihnen – rund 300.000 – besuchte vor dem Krieg UNRWA-Schulen. Vor dem Krieg betrieben wir über 200 Schulen in Gaza. Heute wird keine davon regulär genutzt. Alle Gebäude dienen im Moment als Notunterkünfte, viele von ihnen sind zudem beschädigt oder zerstört. Bereits seit Anfang des vergangenen Jahres bieten wir sogenannte temporäre Lernräume an. Das sind provisorische Klassenräume, in denen die Kinder täglich für einige Stunden Unterricht in Kernfächern wie Arabisch, Englisch und Mathematik erhalten – ergänzt durch psychologische Betreuung. Seit Beginn des Waffenstillstands im Oktober konnten wir diese Angebote auf fast 50.000 Kinder ausweiten – das ist momentan kein reguläres Schulwesen, eher eine Form von Notfallbildung, die weiter ausgebaut und stabilisiert werden muss. Was wir jetzt unbedingt verhindern müssen, ist, dass diese Kinder zum Spielball für weitere Radikalisierung werden.

WELT: Was sind temporäre Lernräume?

Friedrich: Praktisch läuft das so ab: Familien räumen für einige Stunden am Tag einen Klassenraum frei, Unterricht findet dort statt, dann ziehen die Familien mit ihren Habseligkeiten wieder ein. In den rund 100 UNRWA-Notunterkünften, die vor dem 7. Oktober 2023 Schulen waren, leben mehr als 100.000 Menschen. In den umliegenden Gebieten noch einmal Hunderttausende. Unter diesen Umständen ist regulärer Unterricht schlicht nicht möglich.

WELT: Die Menschen bauen ihre Zelte um die Schulen herum auf?

Friedrich: Genau. Die Schulen sind im Moment so etwas wie zentrale Anlaufpunkte, dort befinden sich oft auch Gesundheitszentren und es werden Lebensmittel und Nothilfe verteilt. Der Unterricht hängt immer von der jeweiligen Sicherheitslage ab. Vor dem Waffenstillstand nahmen überhaupt nur 12.000 Kinder an diesen Programmen teil. Ergänzend nutzen wir ein Online-Lernprogramm mit Selbstlernmaterialien, beispielsweise über Mobiltelefone. Da sind inzwischen über 200.000 Kinder registriert. Ob sie teilnehmen können, hängt stark von Strom, Internet und Sicherheit ab. Wenn eine Familie etwa in einem Zelt lebt, kann man kaum erwarten, dass die Kinder regelmäßig und konzentriert lernen. Positiv jedoch ist, dass alle Kinder erfasst sind. Sobald die Lage es zulässt, können wir den Präsenzunterricht schnell wieder hochfahren, was auch für den weiteren Verlauf des „Friedensplanes“ entscheidend ist.

Amin Al Magrebi ist Volontär an der Axel Springer Academy. Für WELT schreibt er unter anderem über Syrien und den Nahost-Konflikt.

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