Kkurz bevor sich der amerikanische Unterhändler Steve Witkoff am Dienstag mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau trifft, versuchten sowohl Kiew als auch Moskau militärische Stärke zu demonstrieren. Die Türkei und Russland meldeten den inzwischen vierten ukrainischen Angriff in nur wenigen Tagen auf ein russisches Schiff im Schwarzen Meer. Russlands Generalstabschef verkündete wiederum, sein Land habe die seit Langem hart umkämpfte Stadt Pokrowsk in der Oblast Donezk eingenommen sowie Wowschansk in der Oblast Charkiw.

Das Institute for the Study of War, das den Frontverlauf anhand öffentlich zugänglicher Quellen erhebt, hat jedoch deutliche Zweifel an den russischen Meldungen. „Es ist noch nicht bestätigt, dass russische Kräfte ganz Pokrowsk eingenommen haben, obwohl sie seit 120 Tagen in der Stadt operieren“, heißt es im aktuellen Bericht des ISW vom Montag.

So sei es unklar, ob die Ukrainer noch vereinzelte Positionen im Norden der Stadt halten würden. Am Montag hatte die Ukraine gemeldet, dass es einer Schnellen Eingreiftruppe gelungen sei, die russischen Kräfte in der Stadt zu blockieren.

Pokrowsk ist also offenbar derzeit immer noch umkämpft, auch wenn der Fall der Stadt nur noch eine Frage der Zeit zu sein scheint – und wie hoch die Verluste noch sein werden, die die Ukraine den Russen bei der Eroberung der Stadt noch zufügen kann.

Militärblogger werfen dem russischen Verteidigungsministerium immer wieder vor, die Lage an der Front zu beschönigen. Wenn das Ministerium nun also pünktlich zum Witkoff-Besuch die Einnahme der Stadt meldet, scheint das eher einer politischen Logik zu folgen, als die militärische Realität abzubilden.

Der Kreml will damit auch gegenüber den Amerikanern den Eindruck erwecken, dass eine ukrainische Niederlage nur eine Frage der Zeit sei, um mehr Zugeständnisse herauszuverhandeln.

In der Vergangenheit hatte das Putin-Regime auf amerikanischer Seite durchaus erfolgreich den Eindruck erweckt, dass die Ukrainer den Krieg verlieren würden. Man erinnere sich nur an das desaströse erste Treffen Donald Trumps mit Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus Ende Februar, als der US-Präsident seinem ukrainischen Kollegen sagte, er habe keine Karten mehr in der Hand.

Tatsächlich kann von einem Zusammenbruch der ukrainischen Front keine Rede sein. Die Russen kommen nur langsam voran, und das unter großen Verlusten. Allerdings hat Moskau im November nach Berechnungen von Reuters so viel Boden gut gemacht wie seit einem Jahr nicht mehr. Die Nachrichtenagentur hatte dafür die vom ISW ermittelten Frontverläufe ausgewertet. Ein taktischer Durchbruch ist Moskau aber bisher nicht gelungen.

Kiew versucht nun seinerseits den Eindruck zu zerstreuen, dass es keine Alternativen mehr zu einem russischen Diktatfrieden habe. Die Ukraine hat ihre Attacken auf russische Ölanlagen intensiviert und in den vergangenen Tagen eine ganz neue Front (wieder-) eröffnet. So wurden mehrere Tanker der russischen Schattenflotte im Schwarzen Meer angegriffen und zwei davon versenkt.

Die Tanker fuhren in der Ausschließlichen Wirtschaftszone der Türkei, als sie mit Seedrohnen angegriffen wurden, und waren auf dem Weg zu den russischen Terminals in Noworossijsk, um Öl zu laden. In den vergangenen Tagen griff die Ukraine dort auch das Terminal der Pipeline an, über die Öl vom Kaspischen Meer nach Noworossijsk transportiert wird.

Die Ukraine versucht offenbar, den Ölexport Russlands über das Schwarze Meer zu stoppen. Gleichzeitig signalisiert Kiew damit, dass es durchaus noch „Karten“ in der Hand hält, um Russland weh zu tun. Dass die Ukraine also keineswegs so verzweifelt und militärisch in der Defensive ist, dass sie jeglicher politischen Lösung zustimmen müsste.

„Die Russen verkaufen das Narrativ in der ganzen Welt, dass die Ukraine sich angeblich nicht verteidigen kann“, schrieb Selenskyj vor einigen Tagen auf X. „Die täglichen Kampfergebnisse unserer ukrainischen Armee, unserer Spezialkräfte und der Angriffe tief in russischem Gebiet zeigen, dass die Ukraine sich und ihre Interessen verteidigen kann.“

Clemens Wergin ist seit 2020 Chefkorrespondent Außenpolitik von WELT. Er berichtet vorwiegend über den Ukraine-Krieg, den Nahen Osten und die USA.

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