Als die AfD-Bundestagsfraktion im Juli dieses Jahres zu einer Strategieklausur zusammenkam, stellte die Fraktions-Vizechefin Beatrix von Storch eine 55-seitige PowerPoint-Präsentation vor. Um die „Brandmauer“ zu stürzen, wolle man „Schwarz-Rot spalten“, heißt es darin.

Dafür wolle man „die Gegensätze zwischen Union und SPD unüberbrückbar machen“ und den Druck auf die CDU erhöhen, etwa indem man ihr den „Markenkern soziale Marktwirtschaft“ streitig mache und Wählergruppen anspreche. Am besten gelinge dies mit den Themen „Wirtschaftswende“ und „Migrationswende“, mit denen die AfD bereits bei der Bundestagswahl im Februar Erfolg hatte.

Im Interview mit WELT-Chefredakteur Jan Philipp Burgard in dem neuen WELT TV-Talkformat „BURGARD.“ orientiert sich die AfD-Vorsitzende Alice Weidel genau an diesen Punkten. Schon in der ersten Antwort nach ihrer Heimat fordert sie eine „vernünftige Wirtschaftspolitik“ – und kommt immer wieder auf dieses Thema zurück. In dem knapp 35-minütigen Gespräch liefert sie eine Mischung aus Angriffslust, Ausweichmanövern und Souveränität.

Wird Weidel auf Skandale innerhalb ihrer Partei angesprochen, ist ihre Strategie immer gleich: Abblocken, relativieren, ablenken. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Maximilian Krah, der Berichte über Repressionen in China als antichinesische Propaganda bezeichnet hat und dessen früherer langjähriger enger Mitarbeiter wegen Spionage für einen chinesischen Geheimdienst zu knapp fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde? „Also ich habe mit Herrn Krah soweit nichts zu tun“, behauptet Weidel – obwohl sie die Fraktion anführt, in der Krah Mitglied ist.

Der in den Bundesvorstand der neuen Jugendorganisation gewählte Kevin Dorow, der bei der Gründungsversammlung am vergangenen Wochenende in Gießen eine Parole als „Leitstern“ ausgab, die zuvor die Hitlerjugend aus der völkisch geprägten Bündnischen Jugend übernommen hatte? „Ich verstehe den Aufreger nicht“, sagt Weidel. „Man kann sich jeden Quark an den Haaren vorbeiziehen.“ Sie sei „so froh, dass wir uns über die total wichtigen Dinge hier unterhalten“. Deutschland schmiere schließlich ab.

Und der neue AfD-Jugendvorsitzende Jean-Pascal Hohm, der früher in der AfD aufgrund von Verbindungen zu rechtsextremen Organisationen mehrere Jobs verloren hatte? Man wisse doch, „wer hier Täter und Opfer ist“, wenn man sich die Proteste in Gießen ansehe, sagt Weidel dann.

Die Parteichefin verweist auf die Angriffe auf einen AfD-Bundestagsabgeordneten und die Beleidigungen gegen Reporter verschiedener Medien durch linke Demonstranten. Das ist ein klassischer Whataboutism, also die Ablenkungsstrategie, nicht auf Kritik einzugehen, sondern auf ein anderes Problem auszuweichen, um der ursprünglichen Diskussion zu entgehen.

An anderen Stellen des Gesprächs gelingt es Weidel, sich als wirtschaftlich kompetente Politikerin zu präsentieren, konsequent strategische Botschaften zu setzen und eine gefestigte argumentative Linie zu vertreten, die sich mit dem Begriff „Deutschland zuerst“ zusammenfassen lässt. So wiederholt sie etwa ihre Position, Deutschland müsse wieder in Russland Erdgas und Erdöl kaufen. „Dieses Geschäftsmodell zwischen Deutschland und Russland hat über Jahrzehnte ziemlich gut funktioniert“, sagt sie.

Dann setzt Weidel die überfallene Ukraine implizit mit dem Aggressor Russland gleich. Auf Burgards Frage, ob es mit ihrem Werteverständnis vereinbar sei, „dass wir Putins Kriegskasse füllen, der Kinder tötet“, antwortet Weidel, die Europäer würden jetzt Waffen für die Ukraine finanzieren, „obwohl dieser Krieg für die Ukraine verloren ist“. Dies erinnert an den AfD-Co-Vorsitzenden Tino Chrupalla, der bereits im Dezember 2024 im WELT-Interview behauptete, dass Russland „diesen Krieg gewonnen“ habe.

In der Bewertung Russlands waren zuletzt mehrfach Differenzen zwischen Weidel und Chrupalla deutlich geworden. Ende September widersprach sie ihm auf offener Bühne bei einer gemeinsamen Pressekonferenz. „Gerade die Europäer“ sollten sich an den Verhandlungstisch setzen, um die Eskalation zu beenden und „endlich mit Russland ins Gespräch zu kommen“, forderte Chrupalla.

Weidel wollte dies nicht stehen lassen. „Ich glaube, dass auch Russland dazu aufgerufen ist, sich deeskalierend zu verhalten“, sagte sie. „Irgendwo muss sich auch Putin irgendwann bewegen, und davon haben wir leider bislang zu wenig gesehen.“ Mitte November kritisierte Weidel dann eine Russland-Reise mehrerer Parteifreunde, während Chrupalla am selben Tag sagte, dass Putin ihm „nichts getan“ habe.

Damit konfrontiert, weicht Weidel am Donnerstag aus. „Wir haben gar kein Interesse an der Fortsetzung dieses schrecklichen Krieges“, antwortet sie auf die Frage nach der Gefahr durch Russland. „Die Eskalation dieses Krieges ist gefährlich“, sagt sie dann. „Für ganz Europa.“ Deutschland habe „dummerweise überhaupt keinen Beitrag dazu geleistet“, dass „dieser Krieg so schnell wie möglich endet“. Ihrem Co-Vorsitzenden will sie in dieser Frage offensichtlich nicht mehr widersprechen.

Würde Weidel Minderheitsregierung der Union tolerieren?

Bei einem anderen Thema wird jedoch eine Meinungsverschiedenheit zwischen Weidel und Chrupalla deutlich. Angesprochen auf eine mögliche Minderheitsregierung der Union auf Bundesebene unter Tolerierung der AfD sagt die 46-Jährige, man müsse „abwarten, was jetzt passiert“ und sich das Personal der CDU ansehen. „Vernünftigen Sachanträgen“ werde man zustimmen. „Wir reichen die Hand für wichtige Entscheidungen und Reformen, um unser Land wieder nach vorne zu bringen.“ Entsprechende Annäherungsversuche zur CDU bezüglich einer Minderheitsregierung gäbe es allerdings nicht – „leider“, wie Weidel betont.

Chrupalla hingegen hatte am vergangenen Wochenende auf dem AfD-Jugendkongress erklärt, die AfD wolle die „Wende zum Guten“ als „Seniorpartner oder allein“ herbeiführen. „Nein, wir sind keine Mehrheitsbeschaffer für die Union“, rief er während seiner Rede. „Unser Motto muss lauten: Regieren statt tolerieren.“

Damit widersprach er explizit dem parlamentarischen Geschäftsführer der AfD-Bundestagsfraktion, Bernd Baumann. Dieser hatte der Union Mitte November in der WELT TV-Sendung „Meinungsfreiheit“ die Unterstützung seiner Partei für eine Minderheitsregierung angeboten. „Das wäre eine Befreiung für die CDU und eine Befreiung für Deutschland“, sagte Baumann damals. Seine Partei sei dafür bereit.

Wenig überraschend ist Weidels Angriff auf den Verfassungsschutz. So nimmt die AfD Einschätzungen des Inlandsgeheimdiensts schon länger nicht mehr ernst. „Das Ganze ist so absurd in unserem Staat, dass eine abhängige Behörde, die aus Parteigängern besteht, an der Konkurrenzbeseitigung beteiligt ist und uns seit Jahren diffamiert“, sagt sie. Mitarbeiter des Verfassungsschutzes schmäht sie als „schmierige Stasi-Spitzel“. „Bild“ nennt den Vergleich des demokratisch kontrollierten Verfassungsschutzes mit der repressiven Geheimpolizei des DDR-Unrechtsstaats eine „geschichtsvergessene Entgleisung“. Der FDP-Fraktionschef in Schleswig-Holsteins Landtag, Christopher Vogt, wirft Weidel auf X gar vor, durch ihre Aussage im Interview die „zahllosen Opfer“ der Stasi zu „verhöhnen“.

Die Sichtweise auf den Verfassungsschutz hat sich innerhalb der AfD in den vergangenen Jahren stark geändert. So hatte der damalige Parteichef Jörg Meuthen noch mehrere Aktivitäten initiiert, die eine Beobachtung durch das Bundesamt verhindern sollten. Im September 2018 gab die Parteispitze etwa bekannt, eine Arbeitsgruppe Verfassungsschutz einzurichten, die sich mit „problematischen Äußerungen“ beschäftigen und parteiintern Aufklärungsarbeit leisten sollte, „wie sich künftig Aussagen von AfD-Politikern vermeiden lassen, die ungeschickt formuliert sind“. Mit Meuthens Austritt Anfang 2022 wurden solche Bemühungen allerdings gestoppt.

Der völkisch-nationalistische Flügel um den Thüringer Landeschef Björn Höcke positionierte sich bereits seit der erstmaligen Einstufung im Jahr 2019 offensiv gegen den Verfassungsschutz und nutzte die Beobachtung für die Inszenierung als politisch Verfolgte. Dieser Kurs hat sich mittlerweile in der gesamten AfD durchgesetzt.

Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.

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