Akaba liegt im Süden Jordaniens, in Richtung des Roten Meers. Dort, wo das Land an Israel und Saudi-Arabien stößt und die Grenze zu Ägypten ganz nah ist. Die Hafenstadt liegt also nicht auf dem Weg, wenn man von Berlin nach Jerusalem reisen will. Man muss von dort rund eine Stunde zurückfliegen. Friedrich Merz (CDU) hatte trotzdem den Umweg über die jordanische Stadt gewählt und dort sogar Halt gemacht, als er am Samstag zu seinem Antrittsbesuch nach Israel aufbrach. Ein bewusst gewählter Zwischenstopp bei diesem diplomatischen Drahtseilakt des Bundeskanzlers.
Merz und König Abdullah II. trafen sich zu einem kurzen Mittagessen in Akaba – trotz seltenem Regen im Wüstenstaat herrschte entspannte Stimmung in der königlichen Residenz. Merz und der König kennen sich, sie schätzen sich. Abdullah II. ist blendend vernetzt, ein Realpolitiker, kein Scharfmacher. Die Bundesregierung sieht in ihm einen der wenigen „Stabilitätsanker“ in der krisengeschüttelten Region.
Ein Besuch als diplomatische Herausforderung
Jordaniens König hat aber auch rund zwei Millionen palästinensische Flüchtlinge im Land, er gilt als einer ihrer Fürsprecher, eine Art Schirmherr. Als einer, der die Nöte dieser Menschen kennt, sich für sie einsetzt. Und diesen König besuchte Merz nun ganz bewusst, bevor er sich mit Israels Präsident Jitzchak Herzog am Samstagabend und mit Premierminister Benjamin Netanjahu Sonntagmittag zu Gesprächen traf
Die Botschaft war klar: Israel ist der engste Freund Deutschlands in der Region – aber nicht der einzige. Deutschland bezieht auch arabische Staaten aktiv in seine Nahost-Diplomatie ein. Und: Die Interessen Israels habe für Deutschland immer höchste Bedeutung – aber auch die Meinung anderer Staaten fällt ins Gewicht.
Und dann hatte Merz im Vorfeld und vor Ort auch noch erklärt, Deutschland werde sich für eine „Zwei-Staaten-Lösung“ stark machen, unüberhörbar für die israelische Regierung. „Unsere Überzeugung lautet, die perspektivische Gründung eines palästinensischen Staats an der Seite Israels eröffnet vermutlich die beste Aussicht auf diese Zukunft“, erklärte Merz in Jerusalem. Als Ende eines Friedensprozesses in der Region, nicht als Zwischenschritt. Genau das möchte die Regierung Netanjahus nicht.
Ihr Fokus liegt nach dem Angriff der Hamas aus Gaza heraus und dem anschließenden Massaker, den Geiselnahmen und Morden auch an den Verschleppten, nach dem Raketenhagel der Hamas aus dem Süden, der Hisbollah aus dem Norden und Irans aus dem Osten vor allem auf Sicherheit. Es war also nicht klar, ob das ein harmonisches Treffen von Merz und Netanjahu wird. Ob sich der Bundeskanzler in dieser Situation als Diplomat bewährt. So viel vorab: Es gelang ihm.
Zwei Freunde mit Meinungsverschiedenheiten
Das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel war in den vergangenen Monaten belastet – stärker als es zwischen beiden Ländern üblich war, die immer ein besonderes Verhältnis hatten und wohl haben werden. Anlass war auch die Entscheidung des Kanzlers, Israel mit einem Teilembargo auf Waffen zu belegen. Grund war die in Berlin als teils überhart empfundene Kriegsführung der israelischen Armee im Gaza-Streifen.
Die war nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und den Morden der Terrororganisation in den Gaza-Streifen einmarschiert. Die Zivilbevölkerung, hinter der sich die Hamas-Kämpfer verstecken, litt unter den Kämpfen vor Ort. Die humanitäre Not war und ist groß. In Israel hatte die Entscheidung des Kanzlers, Waffenlieferungen teilweise einzustellen, für massive Verärgerung gesorgt – wie übrigens auch in Merz‘ eigener Partei und in der CSU, die über diesen Schritt nicht vorab informiert worden waren.
Es wäre also gut möglich gewesen, dass der erste Besuch des Friedrich Merz in Israel als Bundeskanzler mindestens frostig ausfallen würde. So wie der jüngst beim türkischen Präsidenten Recep Erdoğan. Der hatte Merz bei der Abschluss-Pressekonferenz in Einzelpunkten widersprochen, was ungewöhnlich ist bei einer solchen Gelegenheit. Diesmal aber endete das Treffen anders.
Einer Frage weicht der Kanzler aus
Netanjahu fasste den Kanzler am Ende an den Arm, redete ihn mit Friedrich an und sprach eine erneute Einladung aus. Auch für die Gattin des Kanzlers. Dazu lächelte „Bibi“, der auch ganz anders kann, milde. Das Thema Gegeneinladung allerdings wischte Merz elegant vom Tisch. Schließlich liegt gegen den Premier ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen im Gaza-Streifen vor. Dem müsste die Bundesregierung entsprechen. Der Kanzler sagte kurz, ein Besuch stehe derzeit nicht an.
Eine Einladung hatte allerdings auch Erdoğan jüngst vorgeschlagen. Was nichts daran änderte, dass das Treffen in Ankara kühl blieb. Doch in Jerusalem fand der Kanzler nicht nur die richtige Balance bei seinen Botschaften. Er hatte vorab auch ein diplomatisches Netz gespannt. Der Besuch beim jordanischen König gehörte dazu. Und dann hatte Merz vorab auch mit dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas, telefoniert.
Und seinen Gesprächspartner, trotz aller Kritik an seiner Behörde, wissen lassen, dass die durchaus Partner in einem Friedensprozess sein könne, wenn sie an Reformen arbeite. Auch das dürfte man in Israel skeptisch zur Kenntnis genommen haben. Es zeigte aber auch: Der Kanzler hatte sich mit mehreren Seiten vorab besprochen. Er war vorbereitet, kam nicht als Einzelkämpfer.
Merz stellte in mehreren Redebeiträgen vor Ort fest, dass er in „besonders bewegten Zeiten“ nach Israel komme. Seit dem 10. Oktober dieses Jahres gibt es zwar einen Waffenstillstand mit der Hamas. Doch der ist brüchig. Beide Seiten, Israel und die Terrororganisation, beschuldigen sich gegenseitig, ihn zu brechen. Israel will zwar Frieden, dafür müsse aber die Hamas entwaffnet werden.
Die will das aber nur zulassen, wenn vorher die israelische Armee ganz aus Gaza abgezogen ist. Was bei den Israelis wiederum die Sorge vor einem erneuten Aufrüsten und weiteren Angriffe der Hamas aufkommen lässt. Das mit dem Frieden in der Region wird noch harter Verhandlungen bedürfen.
Und dann hatte der Kanzler mehrfach im Vorfeld erklärt, er sehe das Verhältnis von Deutschland und Israel in Nuancen anders, als es seine CDU-Amtsvorgängerin Angela Merkel getan hatte. Auch dies dürfte in Israel für Irritationen gesorgt haben.
Bei Merkel war die Sachlage klar: Sie hatte 2008 bei einem viel beachteten Auftritt vor der israelischen Knesset gesagt: „Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“ Seither stand das Wort von der „Staatsräson“, dem Deutschland im Verhältnis zu Israel verpflichtet sei, über allem. Komme da, was wolle.
Die neue Losung heißt: „unveränderlicher Wesenskern“
Allerdings war die Altbundeskanzlerin während ihrer Amtszeit nie daraufhin geprüft worden, was dieses Generalversprechen wirklich bedeutet. Was geschieht, wenn man an der Seite Israels stehen, zugleich aber die Politik der Regierung in Jerusalem hinterfragen muss. Mit dem Angriff der Hamas war die Lage zunächst klar: uneingeschränkte Unterstützung für das ohne Vorwarnung angegriffene Israel.
Aber dann schlug Israel zurück, wuchs das Leid der Zivilbevölkerung, stellt sich für die Bundesregierung die Frage: Wie weit kann man Israel bei seinem Abwehrkampf unterstützen? Was ist als Reaktion akzeptabel? Die Regierung von SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz musste sich diese Frage nicht mehr stellen, sie brach zuvor auseinander. Friedrich Merz musste sie beantworten. Auch an diesem Wochenende. Beim einstündigen Austausch mit Premierminister Netanjahu.
Der Kanzler fand schon im Vorfeld an diesem Sonntag die richtigen Worte. Vor dem Treffen mit dem Premierminister besuchte er Yad Vashem, die „Gedenkstätte des Holocausts und des Heldenmuts“, in Jerusalem. Er verneige sich vor den sechs Millionen Männern, Frauen und Kindern aus ganz Europa, die von Deutschen ermordet wurden, weil sie Juden waren, sagte Merz. Und erklärte dann: „Deutschland muss für die Existenz und die Sicherheit Israels einstehen. Das gehört zum unveränderlichen Wesenskern unserer Beziehungen, und zwar für immer.“
Die „Staatsräson“ ist vom „unveränderlichen Wesenskern“ abgelöst worden. Was nach den Worten Merz keine Ab- oder Herunterstufung ist. Sondern die Antwort auf veränderte Bedingungen.
Die Formel von der Staatsräson der Altkanzlerin war Merz immer zu absolut. Sie hätte unter anderem bedeuten können, dass Deutschland sich aktiv an der Seite Israels in den Kampf gegen die Hamas, Hisbollah oder Iran hätte stellen müssen. Außerdem bedeutet das besondere Verhältnis nach der neuen Definition auch, dass man Kritik an Israel äußern darf, dass nicht alle Ziele einer Regierung in Jerusalem und ihr Vorgehen ganz automatisch uneingeschränkt geteilt werden.
„Kritik an der israelischen Regierung ist möglich und manchmal vielleicht sogar notwendig“, sagte Merz bei einer Pressekonferenz mit Netanjahu. „Das halten die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel auch aus. Aber Kritik an der Politik der israelischen Regierung darf nicht als Vorwand für Antisemitismus missbraucht werden“, mahnte Merz. Er fügte hinzu: „Schon gar nicht in Deutschland, auch das zählt zu unserer geschichtlichen Verantwortung.“
Dann kritisiert Merz die Lage im Westjordanland
Und Kritik am Vorgehen Israels gibt es derzeit in der Bundesregierung. Nach dem Treffen mit dem jordanischen König hatte Merz schon klar gemacht: „Von Gaza darf nie wieder eine Gefahr für Israel ausgehen. Dazu gehört auch, dass sich die nach wie vor prekäre humanitäre Lage der Zivilbevölkerung Gazas schnell und spürbar bessert. Vor dem Winter braucht es mehr humanitäre Hilfe, bessere Zugänge für diese Hilfe und eben auch einen Einstieg in den Wiederaufbau.“
Anschließend ging der Kanzler einen Schritt weiter: „Wir verlieren darüber hinaus die Lage im Westjordanland nicht aus dem Blick. Wir müssen den Weg zur palästinensischen Staatlichkeit offenhalten. Deshalb darf es keine Annexionsschritte im Westjordanland geben, keine formellen, aber auch keine politischen, baulichen, faktischen oder sonstigen Maßnahmen, die in ihrer Wirkung auf eine Annexion der Region hinauslaufen. Darüber waren König Abdullah und ich uns auch sehr einig.“
Wie brisant die Lage im Westjordanland ist, wurde unmittelbar am Sonntag klar. Die israelische Armee erschoss dort nach eigenen Angaben zwei Palästinenser. Die Schüsse seien nach einem versuchten Anschlag mit einem Fahrzeug auf israelische Soldaten an einem Kontrollpunkt in Hebron gefallen, teilte die Armee mit. „Ein Terrorist beschleunigte in Richtung der Soldaten an einem Sicherheits-Checkpoint in Hebron. Die Soldaten antworteten mit Schüssen auf den Terroristen in dem Fahrzeug und er wurde eliminiert.“ Ein zweiter Mensch sei „involviert“ gewesen, nähere Angaben machte die Armee dazu nicht.
Die Lage im Westjordanland ist also explosiv, der Waffenstillstand in Gaza brüchig. Israel sieht sich weiterhin von allen Seiten bedroht. Die Attacke der Hamas hat ein Trauma hinterlassen, das die Bevölkerung nicht loslässt.
Das Trauma der Hamas-Attacke besteht weiter fort
So wie bei Efrat Machikawa. Die Israelin lebt in einem Kibbuz im Süden Israels, viele ihrer Familien lebten im Kibbuz Nir Oz in der nordwestlichen Negev-Wüste. 117 der knapp 400 Einwohner waren am 7. Oktober 2023 von der Hamas ermordet oder verschleppt worden. Darunter Efrat Katz, die Frau ihres Onkels Gadi Moses. Von Efrat Machikawas Familie aus Nir Oz überlebten drei. Sechs waren entführt worden, eine Verwandte, die genannte Efrat Katz, wurde getötet.
Sie sei eine mulikulturell ausgerichtet Frau, ihr Mann Japaner, erzählt Efrat Machikawa im Gespräch mit WELT. Seit der Attacke gehe sie durch eine „moralische Hölle“. Wie „multikulturell“ könne man nach diesem Angriff noch sein, grübelt sie seither. Von Deutschland erwartet sie: „Unterstützt Israel. Bekämpft den Antisemitismus.“
Friedrich Merz sprach bei seinem Kurzbesuch in Jerusalem mit Familien, die Opfer der Hamas geworden sind, auch mit Efrat Machikawas selbst. Er hörte sich die Schilderungen an, das Leid. Er war nicht gekommen, um sich die Lage von der Loge des Staatsmanns aus anschauen. Das dürfte bei den Israelis Eindruck gemacht haben.
Sollte Benjamin Netanjahu durch Merz Äußerungen gereizt worden sein, ließ er sich das bei der gemeinsamen Pressekonferenz nicht anmerken. An Merz schätze er, dass er mit ihm „in gegenseitigem Respekt auch Meinungsunterschiede“ besprechen könne, sagt der Premierminister.
Netanjahu bezog an der Seite des Bundeskanzlers allerdings erneut energisch Stellung gegen die Gründung eines Palästinenserstaats. „In der Frage von zwei Staaten haben wir offenkundig eine unterschiedliche Sichtweise“, sagte er. Ein künftiger Palästinenserstaat hätte das Ziel, Israel als den „einzigen jüdischen Staat zu vernichten“, warnte der israelische Regierungschef.
Es dürfe kein neuer Staat auf der „Türschwelle“ Israel gegründet werden, „der sich unserer Vernichtung verschreibt“, sagte Netanjahu. Er hob auch hervor, dass eine große Mehrheit im israelischen Parlament quer durch die politischen Lager einen Palästinenserstaat ablehne. Netanjahu warnte außerdem vor einem gefährlichen Wiedererstarken des Antisemitismus in aller Welt. Ungeachtet der Gräueltaten der Hamas gegen Zivilisten am 7. Oktober 2023 würden bei Demonstrationen in internationalen Hauptstädten Flaggen der Terrororganisation getragen, beklagte er. „Dies ist empörend.“
Dennoch, der Besuch endete – für die Beobachter – versöhnlich. Merz trat diplomatischer auf, als bei anderen Anlässen. Neben der Bedeutung, die Israel für Deutschland hat, dürfe der Kanzler wohl aber auch davon getrieben sein, nach den innenpolitischen Fehden wie zuletzt bei der Rente und außenpolitischen Kraftakten unter anderem mit den USA, keinen weiteren Konfliktherd haben zu wollen.
Und dann sollte auch nicht vergessen werden: Deutschland braucht Israel für seine Sicherheit. Zum Beispiel, wenn es um den Raketen-Schutzschild Iron Dome geht. Stichwort Arrow 3. Aber Israel ist in seinem Kampf um seine Existenz auch auf feste Verbündete angewiesen – wie Deutschland seit Langem einer ist.
Nikolaus Doll berichtet über die Unionsparteien und die Bundesländer im Osten.
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