Die europäische Polizeibehörde Europol hat in den vergangenen sechs Monaten 193 Personen festgenommen, die im Zusammenhang mit Gewalt im Auftrag krimineller Netzwerke stehen. Das geht aus einem internen Bericht zur Arbeit der Ermittlungsgruppe „OTF GRIMM“ hervor, dessen Inhalt WELT bekannt ist.

Die Taskforce untersuchte das wachsende Phänomen sogenannter „Violence as a Service“-Verbrechen, bei denen Straftaten wie Einschüchterungen, Folter oder Tötungen über soziale Medien vermittelt und grenzüberschreitend ausgeführt werden.

Laut Europol wurden demnach 63 mutmaßliche Täter, 40 Helfer, 84 Rekrutierer und sechs Auftraggeber festgenommen, darunter fünf als besonders gefährlich eingestufte Zielpersonen. Die Behörden mehrerer europäischer Länder hätten durch die gemeinsamen Ermittlungen zahlreiche Gewalttaten verhindert. Mehrere Fälle betreffen versuchte Morde in Deutschland, den Niederlanden, Spanien und Schweden, bei denen nach Angaben Europols auch Minderjährige beteiligt waren.

Europol-Chefin Catherine De Bolle sagte jüngst in einem Interview mit WELT AM SONNTAG, dass kriminelle Gruppen zunehmend Jugendliche ins Visier nehmen: „Kinder werden nicht mehr nur sexuell ausgebeutet, sie werden nun auch rekrutiert, um Gewalttaten oder andere Straftaten zu begehen.“

Die Täter nutzten Messenger-Dienste und Gaming-Plattformen, um psychisch belastete oder gefährdete Jugendliche gezielt anzusprechen. „Die Rekrutierung ist eine Industrie geworden. Ein einziges Smartphone kann Tausende Jugendliche gleichzeitig erreichen“, sagte De Bolle.

Nach Europol-Angaben sind derzeit 105 Minderjährige europaweit bekannt, die in Fällen von „Violence as a Service“-Verbrechen eine Rolle spielen. Seit Start der Taskforce lassen sich zehn vollendete Auftragsmorde Minderjährigen zuordnen, in vielen weiteren Fällen handelt es sich um versuchte Taten.

Minderjährige würden laut Europol vor allem für Bombenanschläge, Einschüchterungen, gezielte Schüsse auf Häuser, Entführungen und Folter angeworben. Nordeuropa gilt weiterhin als Schwerpunkt dieser Form der Gewalt. Dieses Phänomen habe sich jedoch rasch über den Kontinent ausgebreitet. Rekrutiert würden Jugendliche aus allen sozialen Schichten, wobei Kinder in belasteten Lebensumfeldern besonders gefährdet seien.

Auffällig ist laut Europol, dass manche Rekrutierer selbst minderjährig sind und sehr genau wissen, wie sie Gleichaltrige ansprechen und emotional unter Druck setzen können. Manche handelten im Auftrag krimineller Gruppen, andere böten die Gewalt als eigenes Geschäftsmodell an.

Die Zahl bilde allerdings nur das sogenannte Hellfeld ab. Europol betont, dass viele Ermittlungsbehörden diese neue Form von Auftragsgewalt bisher nicht eindeutig erkennen und daher nicht alle Fälle in die europäische Analyse einfließen. Die Dunkelziffer dürfte dementsprechend höher sein.

Die europäische Ermittlungsbehörde listet mehrere Fälle auf, die von der Polizei aufgedeckt werden konnten. Am 12. Mai 2025 kam es in Tamm in Baden-Württemberg zu einem versuchten Tötungsdelikt. Zwei Tatverdächtige im Alter von 26 und 27 Jahren wurden am 1. Oktober in den Niederlanden festgenommen.

Am 28. März wurden im niederländischen Oosterhout drei Menschen getötet. Drei Verdächtige wurden später in Schweden und Deutschland gefasst. Am 1. Juli nahmen die spanischen Behörden sechs Personen fest, darunter einen Minderjährigen, die einen Mord vorbereitet haben sollen. Dabei wurden Schusswaffen und Munition sichergestellt, was laut Europol eine weitere schwere Tat verhindert hat.

„OTF GRIMM“ wurde im April 2025 gegründet und vereint Ermittler aus elf Ländern, darunter Deutschland, Schweden, die Niederlande und Frankreich. Ziel ist es laut Europol, die digitale Rekrutierung frühzeitig zu erkennen und grenzüberschreitend zu stoppen. Die Behörde fordert dafür eine engere Kooperation mit Technologieunternehmen sowie einen raschen Austausch von Echtzeitdaten zwischen den Mitgliedstaaten.

Alexander Dinger ist stellvertretender Ressortleiter Investigation & Reportage und hat sich in seinem Buch „Neue Deutsche Gewalt. Wie unsicher unser Land wirklich ist“ (C. H. Beck), das er gemeinsam mit WELT-Reporter Philipp Woldin geschrieben hat, intensiv mit Kinder- und Jugendkriminalität auseinandergesetzt.

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