„Ich hatte mit 20 Jahren einen Moped-Unfall, bei dem mein Knie ziemlich zerstört wurde. Das konnte damals zwar behelfsmäßig repariert werden – meine Knieprobleme nahmen über die Jahrzehnte aber so stark zu, dass ich mit 55 praktisch nicht mehr laufen konnte“, erzählt Thomas Hoch. Im Jahr 2023 habe er deswegen ein komplett neues Kniegelenk bekommen. Durch die vorangegangenen Operationen sei das Knie aber stark vernarbt gewesen und nur langsam zugeheilt. So habe ein Infekt eindringen können.
„Es hieß, ich müsste mindestens ein Jahr lang, vielleicht lebenslänglich, und mit ungenauen Erfolgsaussichten Antibiotika nehmen“, fährt Hoch fort. Als Arzt habe ihn diese Vorstellung abgeschreckt. Die einzige Alternative: Das Kniegelenk hätte erneut ausgetauscht werden können. Mit seiner Vorgeschichte hätte das aber möglicherweise zu noch mehr Problemen geführt.
„Irgendwann hat mir mein Arzt von Phagen erzählt. Der Infekt verschwand nicht, mein Knie wurde immer dicker und die Schmerzen nahmen zu – deswegen stimmte ich dieser experimentellen Therapie zu. Ich wollte alles versuchen, was keinen erneuten Gelenkswechsel bedeutete“, so schildert es Hoch.
Was eine Therapie mit Bakteriophagen genau ist, erklärt das „Bundesgesundheitsblatt“: Phagen – verschiedene Viren, die verschiedene Bakterien hochspezifisch bekämpfen – wurden 1917 entdeckt. In den 30er- und 40er-Jahren waren sie sehr beliebt, bis sie von Antibiotika verdrängt wurden. In Osteuropa, insbesondere Georgien, sind Phagen nach wie vor populär. In Westeuropa – vor allem Belgien, Frankreich und Portugal – nimmt ihre Bedeutung angesichts zunehmender Antibiotika-Resistenzen aktuell wieder zu. In Deutschland ist die Therapie nicht zugelassen, kann aber vereinzelt trotzdem angewandt werden. Die Datenlage ist begrenzt, deutet aber eine Heilung in etwa 80 Prozent und eine Besserung in etwa zehn Prozent der Fälle an.
Peter Wigge, Fachanwalt für Medizinrecht, erklärt: „In Deutschland gilt die Therapiefreiheit. Das heißt, dem Arzt steht aufgrund seiner fachlichen Kompetenz grundsätzlich die freie Wahl der Behandlungsmethode zu, die er dem Patienten vorschlagen möchte.“ Im Rahmen eines sogenannten individuellen Heilversuches gelte das auch für nicht anerkannte und unzureichend erforschte Methoden, die vom medizinischen Standard abweichen. Dazu zähle auch die Behandlung mit Phagen, die in Studien eindeutige klinische Erfolge zeige.
Ausschlaggebend sei, dass der Patient umfangreich aufgeklärt werde und der Heilversuch empirisch gesehen nicht aussichtslos sei. Bereits als unwirksam erprobte Verfahren der Alternativmedizin fallen laut Wigge explizit nicht darunter.
Juristisch gebe es einige Punkte zu beachten: Bei einer anerkannten Therapie hafte der Arzt normalerweise nur, wenn der Patient ihm einen Behandlungsfehler nachweisen könne. Bei einem individuellen Heilversuch hingegen trage der Arzt unter Umständen die Beweispflicht und im Falle eines tatsächlichen Schadens daher auch ein erhöhtes Haftungsrisiko. „Deswegen sind viele Ärzte bei individuellen Heilversuchen sehr zurückhaltend. Die Phagen-Therapie wird wohl unter anderem deswegen nur in fünf bis sechs deutschen Krankenhäusern angewendet“, so Wigge.
Hinzu komme, dass der Import von Arzneimitteln aus dem Ausland möglich, aber stark reglementiert sei. „Das Problem dabei ist, dass sich die Qualität der Präparate häufig nicht nach den in Deutschland geltenden Therapiestandards überprüfen lässt, vor allem nicht in einem Land außerhalb der EU wie Georgien“, erklärt Wigge. Gäbe es in Deutschland eine Arzneimittelzulassung für Phagen, wäre das sicherlich einfacher. Das sei aber regulatorisch schwer umzusetzen. Denn: „Jeder Phagen-Stamm gilt als einzelnes Präparat und würde eine eigene Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz benötigen.“
„Habe keine Infektion mehr im Kniegelenk“
Der mit Phagen therapierte Hoch erzählt, in einer mehrwöchigen Behandlung seien ihm zweimal täglich Phagen ins Knie gespritzt worden. Nebenwirkungen habe er keine gehabt. „Nach der sechsten Anwendung fingen die Wunden an, sich zu schließen. Ab April 2025 konnte ich langsam wieder laufen“, sagt Hoch.
Wenig später habe er bei einem kleinen Stolpern sein Kniegelenk überdehnt und sich dabei den Oberschenkelknochen gebrochen. Das Gute aber daran: „Wären in meinem Knie noch Bakterien gewesen, wäre die Infektion erneut aufgeflammt. Das ist sie aber nicht. Die Phagen haben also gebracht, was sie bringen sollten: Ich habe keine Infektion mehr in meinem Kniegelenk“, so Hoch.
Hochs behandelnder Arzt war Steffen Langwald, Leiter des Funktionsbereiches Septische Chirurgie am Klinikum Bergmannstrost in Halle – und einer der wenigen Ärzte in Deutschland, der Phagen-Therapien durchführt. Er bestätigt Hochs Schilderungen.
Außerdem erklärt er, seiner Erfahrung nach seien die Behandlungsrisiken und -kosten bei Phagen sehr gering und die Erfolgschancen sehr hoch: In etwa 50 Prozent trete eine vollständige Heilung, in 80 zumindest eine Verbesserung ein. Das sei stark abhängig von den jeweiligen Erkrankungen – „dafür, dass diese Patienten oft als austherapiert gelten, sind das aber enorme Behandlungserfolge“, so Langwald.
Aktuell sei ein Problem, dass es in der Natur zwar für alle Bakterien passende Phagen gebe, diese in deutschen Apotheken aber nicht verfügbar seien. Deswegen fordert der Mediziner: „Wir benötigen Hersteller, die viel mehr unterschiedliche Phagen vorproduzieren. Oder der Produktionsprozess muss schneller werden.“ Aktuell sei dieser aufgrund der geringen Verbreitung noch vergleichsweise aufwendig.
„Ich kenne zahlreiche Kollegen, die die Therapie mit Phagen theoretisch sehr interessant finden – sie aber aufgrund der gesetzlichen Hürden nicht durchführen“, sagt Langwald. Sein Ziel sei es deswegen, Phagen aus dieser Grauzone herauszuholen. Dabei zeigt er sich zuversichtlich: „Es ist wichtig, dass diese Therapieform sich flächendeckend durchsetzt – und ich glaube, dass das in den kommenden Jahren auch passieren wird.“ Phagen seien bei Weitem kein Allheilmittel, aber eine wertvolle Ergänzung zur Behandlung mit Antibiotika – vor allem vor dem Hintergrund der weltweit wachsenden Zunahme an Antibiotika-Resistenzen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte im Oktober 2025: Im Jahr 2023 sei eine von sechs im Labor bestätigten bakteriellen Infektionen, die weltweit häufig bei Menschen auftreten, gegen die Behandlung mit Antibiotika resistent gewesen. Von 2018 bis 2023 sei die Zahl der Resistenzen bei mehr als 40 Prozent der überwachten Kombinationen aus Erregern und Antibiotika gestiegen. Die WHO sprach deswegen von einer „wachsenden Gefahr für die globale Gesundheit“.
„Phagen sind kein Wundermittel, aber die Forschung daran sollte auf jeden Fall ausgeweitet werden – vor allem, weil Länder ohne starke Pharmaindustrie regulär und erfolgreich damit arbeiten“, sagt Patient Hoch. Er habe in seiner eigenen Praxis zwei syrische Ärzte, die erzählt hätten, in ihrem Heimatland gehörten Phagen zum medizinischen Standard. Das Gleiche gelte für Russland, wo seine Mutter herkomme.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, das für die Zulassung von Medikamenten in Deutschland zuständig ist, teilt auf WELT-Anfrage mit, Phagen seien „einer der Hoffnungsträger bei der Bekämpfung von Infektionen mit multiresistenten Erregern“. Um diese Therapieform weiter voranzutreiben, sei unter Beteiligung des Bundesinstituts eine Guideline der Europäischen Arzneimittelagentur erstellt worden, die sich aktuell in der Abstimmung befinde. Diese solle eine „europaweit harmonisierte und konsistent hohe Qualität“ gewährleisten.
Uma Sostmann ist Volontärin bei WELT. Ihr Stammressort ist die Innenpolitik.
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