Ursula von der Leyen ist Präsidentin der Europäischen Kommission. Sie steht in ihrer zweiten Amtszeit an der Spitze des EU-Gesetzgebungsorgans. Bei einer Veranstaltung der WELT-Partnerpublikation „Politico“ spricht von der Leyen über die Verhandlungen zum Frieden in der Ukraine, die Unterstützung der EU für das von Russland angegriffene Land, und ihr Arbeitsverhältnis zu US-Präsident Donald Trump.
Frage: Wird es in dieser Woche eine Vereinbarung über Nutzung der eingefrorenen russischen Vermögen geben, damit die Ukraine den Kampf gegen Russland fortsetzen kann?
Ursula von der Leyen: Wir arbeiten intensiv auf einen gerechten und dauerhaften Frieden hin. Und ich betone „gerecht und dauerhaft“, weil dieses Friedensabkommen so solide sein sollte, dass es nicht sofort den Nährboden für den nächsten Konflikt bereitet. Das haben wir 2014 gesehen. Wir haben gesehen, dass das Friedensabkommen und die Sicherheitsgarantien nicht hielten, nicht robust genug waren und dass das Friedensabkommen Russland nur Zeit gab, sich neu zu formieren, sich neu zu organisieren, und dann kam 2022 die nächste Invasion. Die Verhandlungen über das Abkommen schreiten voran. Das ist gut, und der 20-Punkte-Plan nimmt immer mehr Gestalt an. Ich denke, das schwierigste Thema ist zum einen die Zukunft der besetzten ukrainischen Gebiete, und das ist etwas, das nur von Präsident Selenskyj und dem ukrainischen Volk entschieden werden kann. Das zweitwichtigste Thema sind die Sicherheitsgarantien. Es müssen sehr robuste Sicherheitsgarantien sein, die einen dauerhaften Frieden gewährleisten. Wir sprechen immer vom „Stahl-Stachelschwein“, das die Ukraine sein muss, damit sie für jeden potenziellen Angreifer unverdaulich ist. Und das dritte Thema sind die eingefrorenen russischen Vermögenswerte. Wir arbeiten intensiv daran, einen Weg zu finden, die Barbestände als Darlehen an die Ukraine zur Finanzierung der nächsten zwei Jahre weitergeben zu können. Die Ukraine muss diese Darlehen nur zurückzahlen, wenn Russland Reparationen zahlt.
Frage: Wie zuversichtlich sind Sie derzeit, dass Belgien sich umstimmen lässt?
Von der Leyen: Wir haben im Europäischen Rat ein recht fortschrittliches, innovatives Verfahren der qualifizierten Mehrheitsentscheidung, das wir anwenden müssen. Wir müssen dabei die damit verbundenen Risiken berücksichtigen und verteilen – und daran arbeiten wir intensiv. Derzeit trägt Belgien die gesamte Last der Europäischen Union auf seinen Schultern (da es die mehr als 150 Milliarden Dollar an eingefrorenen russischen Vermögenswerten verwaltet, die Europa beschlagnahmen möchte, Anm. d. Red.). Ich muss sagen, dass die Gespräche mit Belgien Tag und Nacht laufen und sehr konstruktiv sind. Was wir vorhaben, ist keine Kleinigkeit. Das ist absolut innovativ. So etwas hat es noch nie gegeben. Natürlich verstehen wir die Bedenken Belgiens, und es ist einfach intensive Arbeit. Ich denke, wir sind bereits ziemlich weit gekommen und haben ihre Bedenken in dem Vorschlag berücksichtigt. Aber die nächsten Tage werden zeigen, ob wir zu einer endgültigen Einigung kommen.
Frage: Nato-Generalsekretär Mark Rutte hat mit ziemlich dringlichen Worten vor der Bedrohung durch Russland für Europa gewarnt. Teilen Sie seine Einschätzung?
Von der Leyen: Russland hat im Februar 2022 die Ukraine mit dem Ziel überfallen, Kiew in drei Tagen und das Land in drei Wochen einzunehmen. Putin ist komplett gescheitert. Jetzt befinden wir uns im vierten Jahr, und in den letzten zwölf Monaten hat er ein Prozent – nur ein Prozent – des Territoriums erobert. Wir befinden uns im vierten Jahr eines Zermürbungskrieges. Die Ukraine hatte zu Beginn keine Verteidigung, sie hat dank der Tapferkeit und dem Mut der Menschen, aber auch dank des Einfallsreichtums und der Unterstützung der Europäischen Union standgehalten. Denn Europa hat die Ukraine all die Jahre finanziell unterstützt: mit 185 Milliarden Euro, davon 66 Milliarden als militärische Hilfe. Es ist erstaunlich zu sehen, wie dieses Land standhalten konnte – und wie die Europäische Union zusammenhält. Das sollten wir nicht vergessen. Es ist Russland, das in die Ukraine einmarschiert ist, und der Krieg wird in dem Moment vorbei sein, in dem Russland aufhört zu kämpfen.
Frage: Sie haben davor gewarnt, dass Europa nicht auf das Sicherheitsumfeld vorbereitet ist, mit dem es konfrontiert ist. Wie viele Jahre wird es dauern, bis Europa in der Lage ist, sich vollständig selbst zu verteidigen?
Von der Leyen: Das ist eine gute Frage. Zeit ist ein Luxus, den wir nicht haben.
Frage: Wie viel Zeit bleibt uns?
Von der Leyen: Da wir nicht vorhersagen können, was in Zukunft passieren wird, kann ich nur sagen, dass wir unter enormem Zeitdruck stehen und immer schneller werden müssen. Im letzten Jahr ist in Bezug auf die Verteidigung mehr passiert als in den letzten Jahrzehnten in der Europäischen Union. Zum ersten Mal haben wir einen eigenen EU-Kommissar für Verteidigung. Zum ersten Mal haben wir ein Weißbuch zur Verteidigung. Aber ich denke, noch wichtiger ist die Finanzierung. Wenn man sich das letzte Jahrzehnt ansieht, wurden auf europäischer Ebene acht Milliarden Euro in die Verteidigung investiert. Im letzten Jahr haben wir einen Anstieg der Verteidigungsinvestitionen um 800 Milliarden bis 2030 ermöglicht. Und ich denke, am erfolgreichsten sind die 150 Milliarden des SAFE-Instruments. Wir tun dies mit einem enormen Gefühl der Dringlichkeit, nicht nur für die Verteidigung, sondern weil wir wissen, dass es um unsere Freiheit, unseren Wohlstand und unsere Demokratie geht, die wir verteidigen müssen.
Frage: Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA besagt unter anderem, dass es nun die Politik der Vereinigten Staaten ist, auf diesem Kontinent „Widerstand“ gegen die EU zu „kultivieren“. Wie reagieren Sie darauf?
Von der Leyen: Im Allgemeinen ist es nicht unsere Aufgabe, bei Wahlen zu entscheiden, wer der Führer des Landes sein wird, sondern die Aufgabe der Menschen dieses Landes. Das ist ganz klar. Das ist die Souveränität der Wähler, und diese muss geschützt werden. Das ist einer der Gründe, warum wir beispielsweise jetzt ein Demokratieschild vorgeschlagen haben, denn es ist ein Phänomen, das wir überall beobachten – dass wir unsere Demokratie wirklich schützen und sicherstellen müssen, dass Wahlen fair und frei sind. Das ist das Kronjuwel unserer Demokratien. Im Allgemeinen entscheiden die Wähler, wer der Staatschef ist, und niemand sonst darf sich einmischen, das steht außer Frage.
Frage: Es ist schon bemerkenswert, dass Sie über den Schutz der Demokratie sprechen, wenn eine Frage zu den Vereinigten Staaten gestellt wird.
Von der Leyen: Ich hatte immer ein sehr gutes Arbeitsverhältnis zu den Präsidenten der Vereinigten Staaten, und das ist auch heute noch so. Ich bin aus tiefstem Herzen eine überzeugte Transatlantikerin. Aber wichtig ist, dass wir uns positionieren, dass wir stolz darauf sind, die Europäische Union zu sein, dass wir auf unsere Stärken schauen und dass wir uns den Herausforderungen stellen, die wir haben. Natürlich hat sich unsere Beziehung zu den Vereinigten Staaten verändert. Warum? Weil wir uns verändern. Es ist wichtig, dass wir uns die Frage stellen: Was ist unsere Position? Was ist unsere Stärke? Lasst uns daran arbeiten. Lasst uns darauf stolz sein. Lasst uns für ein geeintes Europa eintreten. Das ist unsere Aufgabe, und zwar nicht immer in Bezug auf andere, sondern indem wir uns selbst betrachten und stolz auf uns sind.
Dieser Text erschien zuerst bei der WELT-Partnerpublikation „Politico“. Übersetzt, gekürzt und redaktionell bearbeitet von Lara Jäkel.
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