Die Formel „nicht im Koalitionsvertrag vereinbart“ wird seit dem Start der schwarz-roten Koalition häufig verwendet. Grund: Forderungen des jeweils anderen Regierungspartners lassen sich damit prima ausbremsen oder blockieren.

Im Streit über die Stabilisierung des Rentenniveaus war wochenlang diskutiert worden, ob denn nun die bei der Union besonders umstrittene Passage im Gesetzentwurf von SPD-Chefin und Sozialministerin Bärbel Bas für die Zeit nach 2031 mit dem Koalitionsvertrag vereinbar ist oder nicht. Am Ende hieß es auch bei der Mehrheit in der Unionsfraktion schweren Herzens: Könnte man durchaus als im Vertrag vereinbart ansehen.

Der Koalitionsvertrag ist die Basis für jedes Bündnis, eine Art Grundgesetz für die Regierungsarbeit. Was nicht drinsteht, muss nicht umgesetzt werden. Wer Projekte der anderen Seite nicht will, kann die berühmte rote Linie ziehen und nur schwer dazu bewegt werden, sie aufzugeben. Es sei denn, man ändert mitten in der Legislaturperiode – gemeinsam – den Koalitionsvertrag.

Möglich ist das, man braucht dafür keine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag, man braucht das Parlament dafür theoretisch überhaupt nicht. Man bräuchte Einigkeit darüber in der Koalition.

Die Ampel-Koalition wäre nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine gut beraten gewesen, die Regierungsagenda in Teilen der neuen geopolitischen Lage anzupassen. Es kam nicht dazu. Alle Beteiligten wussten, wie schwer es ist, mitten in der Legislaturperiode die vertragliche Grundlage der Koalition zu ändern. Doch Teile der Union wollen nun genau das: Sie wollen den Koalitionsvertrag ergänzen, anpassen an die aktuelle Situation, die vor allem von der wirtschaftlichen Flaute geprägt ist.

Den ersten Vorstoß machte Ende voriger Woche Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU), indem sie in einem Interview mit „Table.Media“ sagte, für sie sei „dieser Koalitionsvertrag eine Basis, für die Sozialdemokratie ist es eine Decke“. Und weiter: „Ich glaube, wir müssen uns darüber unterhalten, ob dieser Koalitionsvertrag wirklich das maximal Umsetzbare in dieser Legislatur ist.“

Das war die Aufforderung zur Neufassung des Vertrags, zumindest in Teilen. Die Aussagen elektrisierten auf dem CSU-Parteitag am Wochenende in München manche Delegierten mehr als die Rede ihres Parteivorsitzenden Markus Söder. „Mal schauen, wie die SPD darauf reagiert“, sagte einer der Delegierten.

Nun legt die Ministerin gerne mal im Alleingang neue Forderungen vor, die nicht jeder im Unionslager teilt. Zum Beispiel beim Hochsetzen des gesetzlichen Renteneinstiegsalters. Aber im Fall des Koalitionsvertrages springen Reiche nun gleich zwei maßgebliche CDU-Politiker zur Seite – am Montag im Konrad-Adenauer-Haus.

„Ich war ja immer schon der Meinung, dass Koalitionsverträge, die für vier Jahre lang angelegt sind, aus der Zeit gefallen sind“, sagt CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann am Montag in Berlin nach der Sitzung der Führungsspitze in der Parteizentrale. Er verstehe, dass vertragliche Vereinbarungen nötig seien. „Aber es wird wahrscheinlich niemanden geben, der sagt, dass man nicht darüber hinaus Anpassungen vornehmen muss.“ Im kommenden Jahr solle das Sozialversicherungssystem grundlegend reformiert werden, im Koalitionsvertrag stünden dazu nur wenige Sätze.

„Und vermutlich werden alle Entscheidungen, die wir dann treffen, nicht gedeckt sein vom Koalitionsvertrag, sondern darüber hinausgehen. Und deswegen unterstütze ich da Frau Reiche mit dem, was sie macht“, sagt Linnemann.

Und Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU) erklärt, ein Koalitionsvertrag sei „natürlich der Ausgangspunkt für diese Legislaturperiode, aber kein Fahrplan für die kompletten vier Jahre“. Union und SPD seien sich schon bei der Koalitionsvereinbarung einig gewesen, „dass wir auf sich verändernde Rahmenbedingungen auch angemessen reagieren müssen. Und das bedeutet dann eben, dass, wenn sich die Herausforderungen als größer und gewaltiger darstellen, wir dann auch in der Lage sind, über den Koalitionsvertrag hinauszugehen.“

Er wage die Prognose, dass es zu Änderungen am Vertrag kommen werde. „Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind noch größer als die, die wir bei Koalitionsvertragsabschluss angenommen haben.“

„Haben sehr, sehr gute Kommunikation“, behauptet Frei

Spannend ist nun, wie die SPD das sieht. Das Ergebnis dieser Debatte kann sein, dass sich die Koalition flexibler an die anstehenden Aufgaben anpasst. Oder dass sie sich im Streit über Änderungen am Koalitionsvertrag in neuen, zähen Debatten verheddert.

Linnemann und Frei – die beiden Männer da auf der Bühne im Adenauer-Haus haben das Vertrauen von Kanzler Friedrich Merz (CDU). Ihr Wort hat Gewicht – sie haben vor einem Jahr das Wahlprogramm von CDU und CSU ausgearbeitet. Sie waren in der Redaktionsgruppe für den Koalitionsvertrag, der – wie sie jetzt selbst erkennen – nicht die Antwort auf alle Fragen ist.

Frei und Linnemann standen und stehen immer dann im Feuer, wenn es in der Koalition schlecht läuft: Linnemann, der für die Partei zuständig ist, vielleicht ein bisschen weniger als Frei, der als Kanzleramtsminister die Regierungsgeschäfte verantwortet. „ChefBK“ zu sein, wie sein Posten regierungsintern bezeichnet wird, bedeutet jede Menge Maschinenraum-Arbeit: Frühkoordinierung strittiger Gesetzentwürfe, das frühzeitige Entdecken von Problemen, die dem Kanzler gefährlich werden könnten, dazu die Koordinierung mit der Unionsfraktion und die Vorbereitung der Koalitionsausschüsse. Je leiser das alles vor sich geht, desto effizienter die Arbeit des Kanzleramtschefs. Die Rumpeleien innerhalb der Union haben deshalb auch etwas mit Frei zu tun.

Umso erstaunlicher, wie der CDU-Mann an diesem Montagmittag im Adenauer-Haus auf 2025 zurückschaut: „Wir haben eine sehr, sehr gute Kommunikation innerhalb der Union – zwischen Regierung, Partei und Fraktion“, sagt der Kanzleramtschef.

Freis Sicht der Dinge klingt an diesem Tag sehr nach Weichzeichner, nach rosaroter Brille – jedenfalls, wenn man sich noch einmal an das Ende der jüngsten Sitzungswoche erinnert. Nur mit Ach und Krach und unter beachtlichem Druck gelang es da, das Rentenpaket der Koalition durch den Bundestag zu bringen – und die „Renten-Rebellen“ aus der Jungen Gruppe der Unionsfraktion einzuhegen. Jens Spahn (CDU), der Chef der Unionsfraktion, stand danach erleichtert vor den Kameras, forderte aber „Manöverkritik“ ein.

Die Chance dazu hätte die CDU in der Sitzung von Präsidium und Vorstand am Montag durchaus gehabt. Die Grundmelodie bei Linnemann und Frei in der Pressekonferenz im Anschluss ist jedoch eine andere. Erst auf Nachfrage lässt sich Frei auf die Spahn-Terminologie ein. Manöverkritik? „Das muss man jedes Mal machen“, entgegnet Frei. „Das haben wir in der Vergangenheit immer gemacht, weil man die Dinge im Zweifel immer besser machen kann, als sie tatsächlich gelaufen sind.“

Einen Hauch von Selbstkritik gibt es dann doch noch. Die Sache mit der Rente, räsoniert der „ChefBK“, sei „in der Entwicklung am Ende“ nicht gut gelaufen. „Dafür gibt es aber nicht den einen Grund, sondern eher eine Melange aus ganz vielen einzelnen Gründen.“ Genau das wäre er also – der Moment, in dem sich tiefer in die Analyse einsteigen ließe. Doch da neigt sich der Auftritt der beiden Merz-Vertrauten schon dem Ende zu.

Kommunikation – das ist, was der Kanzleramtschef ganz oben auf dem Zettel hat. „Es wird weiter so sein, dass wir viel miteinander reden müssen.“ Weiter, weiter, immer weiter. 2026, so die Botschaft von Linnemann und Frei, werde es auf jeden Fall um schmerzhafte Entscheidungen gehen. Geht es nach ihnen: auch um Einschnitte, die über den Koalitionsvertrag hinausgehen sollen.

Rasmus Buchsteiner ist Chief Correspondent Berlin bei „Politico“ Deutschland.

Nikolaus Doll berichtet über die Unionsparteien und die Bundesländer im Osten.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.