Die Stimmung in Brüssel ist angespannt wie selten. Diplomaten sprechen von einer „Schicksalswoche“. Ab Donnerstag müssen die EU-Staats- und Regierungschefs darüber entscheiden, wie sie die Ukraine weiter finanzieren wollen. Schon im kommenden März oder April könnte das Land pleite sein, meldete kürzlich der britische „Economist“. Der Finanzbedarf für die kommenden zwei Jahre liegt bei mindestens 134 Milliarden Euro.
Einen Teil davon soll der Internationale Währungsfonds (IWF) übernehmen. Aber das gelingt nur, wenn das IWF-Hilfsprogramm durch zusätzliche Milliarden unterstützt wird. Aber woher soll das Geld kommen?
Die Geldzuschüsse aus Brüssel sind für die Ukraine überlebenswichtig, nachdem sich Washington nach dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump vor knapp einem Jahr aus der Finanzierung des Ukraine-Kriegs herausgezogen hatte.
Es gehe jetzt auch angesichts des bevorstehenden Winters darum, der Ukraine das Signal zu senden, dass man an ihrer Seite stehe, sagte der Chef der europäischen Christdemokraten (EVP), Manfred Weber.
Aber ob das gelingen wird? Seit September streiten die Europäer über die Finanzierungsmodalitäten.
Es steht dabei nicht nur für Kiew, sondern auch für die Europäische Union viel auf dem Spiel: Klappt es nicht, die Ukraine mit europäischen Geldern über Wasser zu halten, dürfte dies die Kritik von unterschiedlichen Seiten an einem „schwachen Europa“ und dem „Brüsseler Chaos“ weiter befeuern. Außerdem dürfte es aus Sicht der US-Administration die Position der Europäer bei den Gesprächen über einen möglichen Waffenstillstand weiter schwächen.
Mehrere Vorschläge in der Diskussion
Aus Sicht der europäischen Regierungen muss bei diesem Weihnachtsgipfel in Brüssel eine Entscheidung fallen über die weitere Finanzierung der Ukraine. EU-Ratspräsident Antonio Costa kündigte an, er werde das Treffen nicht beenden, bevor man ein Ergebnis präsentieren könnte. In Brüssel liegen verschiedene Finanzierungsvorschläge auf dem Tisch.
Am aussichtsreichsten ist dabei aus Sicht der EU-Kommission und einer Mehrheit der Mitgliedstaaten ein Vorschlag, wonach Europa die seit dem Jahr 2022 eingefrorenen Vermögen der russischen Zentralbank in Höhe von 210 Milliarden Euro teilweise nutzen soll. Die Bundesregierung war aus rechtlichen Gründen lange Zeit vehement dagegen, im September schwenkte sie aber plötzlich um und Kanzler Friedrich Merz (CDU) setzte sich sogar an die Spitze der Bewegung. Dabei liegt der allergrößte Teil des Vermögens, rund 185 Milliarden Euro, beim belgischen Finanzdienstleister Euroclear in Brüssel.
Die Idee ist: Die EU will das eingefrorene Geld gegen den Willen Moskaus verwenden – was die ohnehin schwierigen Gespräche über einen Waffenstillstand schwer belasten dürfte – ohne dabei Russland zu enteignen, was den Grundsatz der sogenannten Staatenimmunität verletzen würde.
Die EU-Kommission hat sich dafür schon vor Monaten ein völkerrechtlich und politisch umstrittenes Konstrukt mit dem kryptischen Namen „Reparationsanleihe“ ausgedacht. Vereinfacht gesagt, geht es dabei darum: Die EU-Kommission will 90 Milliarden Euro der bei Euroclear lagernden rund 185 Milliarden Euro faktisch konfiszieren und das Geld als zinslosen Kredit an die Ukraine weitergeben.
Dieser Schritt hätte politisch gleich mehrere Vorteile.
Erstens: Das Geld würde schnell zur Verfügung stehen.
Zweitens: Er bedient die Forderung aus großen Teilen der europäischen Öffentlichkeit, Moskau müsse für seinen Krieg in der Ukraine bestraft werden.
Drittens: Eine „Reparationsanleihe“ würde in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, die EU-Länder könnten auf wundersame Weise die Ukraine finanziell unterstützen, ohne dabei die eigenen Haushalte zu belasten.
Viertens: Die in Deutschland hochumstrittenen Gemeinschaftsschulden (Eurobonds) zur Finanzierung der Ukraine werden ausgeschlossen.
Fünftens: Die Europäer verhindern mit dem dauerhaften Einfrieren der russischen Zentralbankgelder am vergangenen Freitag und der geplanten „Reparationsanleihe“, dass die Amerikaner zusammen mit Russland – wie in Trumps 28-Punkte-Plan vorgesehen – Zugriff auf die Gelder erhalten.
Gegenwehr aus Belgien
Seit Monaten stemmt sich die belgische Regierung gegen eine „Reparationsanleihe“. Das führte bereits beim EU-Gipfel im Oktober zu einem Eklat. Man ging in Brüssel jedoch davon aus, dass Belgien schon einlenken werde. Das passierte aber nicht.
Jetzt wollen Merz & Co. den belgischen Regierungschef Bart De Wever massiv unter Druck setzen und damit zur Räson bringen – auch wenn die Verhandlungen bis zum 4. Advent dauern sollten. Es könnten also lange Tage und Nächte werden in Brüssel für den deutschen Kanzler.
De Wever fürchtet, dass Moskau für die konfiszierten Milliarden beim belgischen Finanzdienstleister Euroclear Haftungsansprüche geltend machen könnte. Damit in diesem Fall nicht nur Belgien belastet würde, fordert De Wever von den Europäern entsprechende Absicherungen.
Und in der Tat: Am vergangenen Freitag reichte die russische Zentralbank bei einem Gericht in Moskau Klage ein gegen Euroclear und bezifferte die Forderungen auf rund 195 Milliarden Euro.
Die EU-Kommission will aber juristisch sicherstellen, dass Forderungen, die Moskau von einem Schiedsgericht aus einem Drittstaat, zugesprochen werden, in der Europäischen Union nicht vollstreckt werden können. In jedem Fall wäre aber damit zu rechnen, dass Moskau nun Gegenmaßnahmen gegen noch vorhandenes europäisches Kapital in Russland – und dabei insbesondere gegen Investoren aus Belgien – ergreifen wird.
Die EU muss einen Affront vermeiden
Theoretisch ließe sich Belgien bei der Entscheidung über die „Reparationsanleihe“ von der Mehrheit der EU-Länder überstimmen. Das wäre allerdings ein Affront gegen ein Gründungsland der EU. Dies will niemand der EU-Spitzen. Hinzu kommt, dass mehrere Länder aus anderen Gründen wie Belgien ebenfalls gegen die geplante Finanzierung der Ukraine sind: Ungarn, Tschechien und die Slowakei.
Auch Italien wackelt, denn Regierungschefin Giorgia Meloni steht in ihrer Koalition wegen dieser Frage unter Druck. EU-Chefdiplomatin Kaja Kallas sagte am Montag, die Diskussion um die Nutzung der in Europa eingefrorenen russischen Vermögen werde „zunehmend schwieriger“.
Die EU-Kommission versuchte Belgiens Dilemma zuletzt dadurch zu lösen, dass sie nach eigenen Worten eine „dreistufige Verteidigung“ versprach. Das sollte dazu führen, dass es „kein Szenario“ geben wird, in dem Euroclear das Geld nicht zurückerhalten wird. Demnach würden die EU-Staaten Garantien geben, um eventuelle Verbindlichkeiten von Euroclear zu decken.
De Wever misstraut den EU-Ländern, dass sie am Ende zu einem solchen Schritt bereit sein werden. Er verlangt schriftliche Garantien, die die Regierungschefs in dieser Form aber nicht bieten können.
Hinzu kommt: Mehrere Staaten haben bereits signalisiert, nicht mitmachen zu wollen, Italien ist unsicher und selbst in Frankreich ist nicht klar, ob Staatspräsident Emmanuel Macron in der Lage sein wird, die Garantien für ein „Reparationsdarlehen“ durch die Nationalversammlung zu bringen. Dies könnte dann zu einer sogenannten Sperrminorität führen, wozu mindestens vier Mitgliedsländer, die 35 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, nötig wären.
Die Folge: Der gesamte Plan einer „Reparationsanleihe“ misslingt. Es wäre das Worst-Case-Szenario, das allerdings in Brüssel nicht ausgeschlossen wird. Dabei gilt grundsätzlich: Je weniger Länder mitmachen, desto höher wird die Haftungssumme für die übrigen Staaten – insbesondere für Deutschland, das ohnehin schon für mindestens ein Viertel der Darlehenssumme aufkommen müsste.
Letztlich müssten die Mitgliedstaaten laut Brüsseler Plan aber nur dann für die 90 Milliarden Euro aufkommen, wenn Moskau nach Ende des Krieges Reparationen für die Kriegsfolgen in mindestens gleicher Höhe an Kiew zahlen wird. Das hält man in Brüssel für ausgeschlossen.
Allerdings könnte Russlands Machthaber Wladimir Putin einen Strich durch die Brüsseler Rechnung machen. Sein Junktim bei möglichen Verhandlungen über einen Waffenstillstand oder Frieden in der Ukraine könnte lauten: Ohne die sofortige Rückgabe der konfiszierten russischen Zentralbankgelder wird Moskau bei den Gesprächen keine Konzessionen machen. Das freilich könnte dann sehr teuer werden für die EU-Länder, vor allem für Deutschland.
Christoph B. Schiltz ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet unter anderem über Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, die europäische Migrationspolitik, die Nato und Österreich.
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