Kaum war die Entscheidung öffentlich bekannt, fiel der Wert des brasilianischen Real: Flavio Bolsonaro, der älteste Sohn des inhaftierten rechtspopulistischen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro, soll Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen im kommenden Jahr werden. So hat es das Familienoberhaupt entschieden. Ob der 44-Jährige tatsächlich stark genug ist, den linkspopulistischen Amtsinhaber Luis Inacio Lula da Silva zu schlagen, ist derzeit schwer zu sagen.
Die Märkte hatten zunächst ihre Zweifel. Aktuelle Umfragen sehen Flavio allerdings inzwischen als chancenreichsten Herausforderer aus dem rechten Lager, das Portal 360 sieht ihn in einer möglichen Stichwahl sogar leicht vorn.
Eine steigende Zahl der Brasilianer zeigt sich laut Umfragen zwar unzufrieden mit dem amtierenden Präsidenten, trotzdem geht Lula da Silva (80) als Favorit in die Wahlen 2026. Denn im September verurteilte das Oberste Bundesgericht Lulas aussichtsreichsten Rivalen Jair Bolsonaro zu 27 Jahren Haft und verbot ihm die Kandidatur für politische Ämter. Zudem ist dem 70-Jährigen jegliche öffentliche Äußerung untersagt.
Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Bolsonaro im Januar 2023 seine Anhänger zur Erstürmung des Obersten Gerichts, des Präsidentenpalastes und des Kongresses in der Hauptstadt Brasilia angestiftet habe. Lula profitiert nun von dem entstandenen Machtvakuum und von einer personellen Zersplitterung der rechten Opposition ohne eindeutige Führungsfigur.
„Die bevorstehenden Wahlen werden entscheiden, ob wir weiterhin eine freie Nation bleiben oder Geiseln von Ideologien werden, die weltweit bereits gescheitert sind“, sagt Michelle Bolsonaro, die Ehefrau des inhaftierten Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro, WELT. Sie galt zwischenzeitlich ebenfalls als mögliche Präsidentschaftskandidatin.
„Die Wahlen werden auch darüber entscheiden, auf welcher Seite Brasilien auf dem geopolitischen Schachbrett stehen wird: auf der Seite der Länder, die Terrorismus, Drogenhandel und die Versklavung ihrer Bevölkerung durch Diktaturen fördern, oder auf der Seite der Länder, die sich für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte einsetzen.“ Auf der einen Seite stünden diejenigen, die für die Dekonstruktion von Werten, den Angriff auf das Leben unschuldiger Babys – also Abtreibung –, die Legalisierung von Drogen, die Ausweitung der Macht des Staates über das Leben der Menschen und das Ende der Freiheiten eintreten würden, so die 43-Jährige. Diese Menschen seien derzeit an der Macht.
Auf der anderen Seite gebe es Millionen von Brasilianern, die an Freiheit, Glauben, Familie und Arbeit glauben würden. Michelle Bolsonaro ist praktizierende evangelikale Christin und ist im Umfeld der stetig wachsenden evangelikalen Kirchen äußert populär.
Zuletzt hatte Donald Trump versucht, Einfluss auf den Prozess gegen Jair Bolsonaro zu nehmen. „Er hat immer seine Wertschätzung für Brasilien und meinen Mann zum Ausdruck gebracht. Wir empfinden ihn als einen gerechten Mann, der Gott fürchtet und Amerika, sein Volk, liebt und Israel verteidigt“, sagt Michelle Bolsonaro über den US-Präsidenten.
Trump hatte Strafzölle gegen brasilianische Produkte verhängt, weil die brasilianische Justiz eine „Hexenjagd“ auf Bolsonaro veranstaltet habe. Das allerdings führte zu einer Verteuerung von in den USA beliebten Produkten wie Organgensaft oder Kaffee.
Lula da Silva gewann diesen Machtkampf, auch weil Brasilien gegenüber den USA ein Handelsdefizit aufweist, also die US-Wirtschaft eher vom Export nach Brasilien abhängt als umgekehrt. Inzwischen hat Trump die meisten Zölle zurückgenommen, das Bolsonaro-Lager hat das konsterniert zur Kenntnis genommen.
Auch der vom Lula-Lager gefeierte Richter am Obersten Bundesgericht, Alexandre de Moraes, geht als Gewinner aus dem Streit hervor. Washington hatte der prägenden Figur im Prozess gegen Bolsonaro und dessen Frau die Einreise in die USA verboten – die Visa-Beschränkungen aber kürzlich wieder aufgehoben.
Das Bolsonaro-Lager ist schwer geschlagen. Es kritisiert wiederum die fehlende Aufarbeitung der großen Korruptionsskandale rund um die Konzerne Odebrecht und Petrobras. Im Rahmen dieser Ermittlungen wurde Lula da Silva selbst zwischenzeitlich verhaftet und verurteilt, kam aber während der anschließenden Präsidentschaft Bolsonaros auf freien Fuß, durfte 2022 gegen Bolsonaro antreten und gewann die Wahlen mit hauchdünnem Vorsprung.
Michelle Bolsonaro spricht von „Schande und einer Verhöhnung“, weil die brasilianische Justiz sich nicht mehr mit den Korruptionsfällen der Ära Lula befasse. Richter in Brasilien würden Drogenhändler und Mörder freilassen, während sie Frauen zu mehr als 14 Jahren Haft verurteilen würden, die bei einer Demonstration gebetet oder mit Lippenstift eine Statue beschmiert hätten.
„Korruption ist – und bleibt – ein ernstes Problem in Brasilien, insbesondere in linken Regierungen. Sie scheint aber von der Presse und von den Menschen, die von ihr beeinflusst und getäuscht werden, als normal akzeptiert zu werden“ sagt Michelle Bolsonaro. Nun habe Brasilien einen Präsidenten, der in drei Instanzen wegen Korruption verurteilt worden sei und jetzt das Land regiere, „weil die Verfahren gegen ihn aus rein administrativen Gründen eingestellt wurden – nicht weil seine Unschuld bewiesen wurde“.
Heute habe Lulas Anwalt, der in den Korruptionsverfahren aktiv war, auf Vorschlag von Lula selbst einen Sitz am Obersten Gerichtshof. Der derzeitige Präsident habe also seinen eigenen Anwalt für das Gericht nominiert, das ihn „freigesprochen“ habe: „Glauben Sie, dass noch jemand an die Unparteilichkeit dieses Gerichts glauben kann?“
Nachdem dem Trump mit seinen Strafzöllen gescheitert ist, bringt Michelle Bolsonaro eine weitere Variante ins Spiel: Die US-Justiz könnte die geschlossenen Kronzeugenvereinbarungen mit in die Korruptionsfälle verwickelten Unternehmen überprüfen. In der Tat mehren sich die Signale, dass sich die US-Justiz im brasilianischen Wahljahr 2026 intensiver mit dem Skandal beschäftigen könnte, nachdem die Zollstrategie Trumps gescheitert ist.
Machtkampf innerhalb der Familie Bolsonaro
Währenddessen tobt innerhalb der Familie ein Machtkampf um Bolsonaros politisches Erbe. Die Söhne und Michelle Bolsonaro widersprachen sich zuletzt öffentlich bei der Auswahl von politischen Partnern für das Wahljahr 2026 und offenbarten erste Risse.
Nun scheint mit dem Machtwort des Ex-Präsidenten die Entscheidung gefallen. Trotzdem fehlt der einflussreichen Familie eine Erzählung, wie es mit dem Land weitergehen soll – nur auf die Begnadigung Jair Bolsonaros als Wahlkampfthema zu setzen, wird nicht reichen. Die Brasilianer erwarten auch Konzepte für die Zukunft. Die wird nun Flavio liefern müssen.
Wahlanalystin Luciana Barros sagt im Gespräch mit WELT, die Familie Bolsonaro habe durch die schleppende Auswahl eines Nachfolgers viel Zeit verloren, „vor allem, weil der ‚Segen‘ nicht vom ehemaligen Präsidenten selbst kam, als er die Gelegenheit hatte, ihn zu übermitteln“.
Für Politikwissenschaftler Alberto Carlos de Melo Almeida ist es keine Überraschung, dass sich Bolsonaro für seinen Sohn Flavio entschieden habe. „Bolsonaro ist machistisch“, sagt Melo Almeida im Gespräch mit WELT. Er unterstütze deshalb nicht seine Frau, sondern habe nur Vertrauen zu seinen Söhnen und insbesondere zu seinem ältesten Sohn Flávio. „Und ich denke, er wäre der stärkste Kandidat der Rechten.“
Tobias Käufer ist Lateinamerika-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2009 über die Entwicklungen in der Region.
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