Ein stetes Rumpeln hängt über Kybartai, einer Kleinstadt im äußersten Westen Litauens. Metall schlägt auf Metall, Bremsen quietschen. Wenige hundert Meter vom Bahnhof entfernt liegt die Grenze zur Oblast Kaliningrad, einer russischen Exklave mitten in Europa, etwas kleiner als Thüringen. Das Gebiet hieß früher Königsberg, gehörte zu Deutschland, nach dem Zweiten Weltkrieg dann zur Sowjetunion, jetzt zu Russland.
Seit einigen Jahren ist das karge Hügelland, wo Litauen und damit EU und Nato an Russland grenzen, von Stacheldrahtzäunen zerschnitten. Ein müder russischer Grenzer steht vor seinem Wachhäuschen und blickt auf eine Schranke, die er nur noch selten hochklappt. Die alten deutschen Bauernhäuser dahinter, vor denen die russische Trikolore weht, befinden sich aus Sicht vieler Litauer inzwischen auf Feindesland.
Nur am Grenzbahnhof herrscht Betrieb. Denn Tag und Nacht rollen russische Züge durch litauisches Territorium. Obwohl die Beziehungen sehr angespannt sind, ist zwischen der EU und Russland weiterhin ein Transitabkommen in Kraft. Es wurde 2003 ins Leben gerufen: Litauen stand kurz vor dem EU-Beitritt und Russland war über die Anbindung und Versorgung seiner Exklave besorgt. Die EU gestattete Russland, die Züge von der Exklave Kaliningrad nach Belarus und weiter ins Kernland rollen zu lassen.
Neben Gütern, die auf der Schiene transportiert werden, passieren täglich bis zu acht Schlafzüge das südbaltische Land. Das gilt bis heute, obwohl die Züge vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges als potenzielles Sicherheitsrisiko gelten. Von Kaliningrad aus können Russen mit dem Zug nach Moskau, Sankt Petersburg und sogar bis ins südrussische Adler reisen, einer Schwarzmeerstadt an der georgischen Grenze.
Neunzehn Stunden braucht der Zug von Kaliningrad nach Moskau. Die russischen Staatsbahnen nennen ihn „Jantar“, Bernstein. Zweieinhalb Stunden Fahrt durch die Exklave, dann rollt der graurot lackierte Zug über den Liepona, das Grenzflüsschen, so schmal, dass man drüberspringen könnte. Dahinter erwarten ihn acht Beamte des litauischen Grenzschutzes im Bahnhof Kybartai.
Die schwere Eisentür am hinteren Waggon öffnet sich. Tatjana, die in Wirklichkeit anders heißt, nickt den Grenzern zu, gesprochen wird nicht. Sie ist Zugbegleiterin bei der RZD, den russischen Staatsbahnen, trägt einen adretten beigefarbenen Blazer, Lammfellmütze und ein Halstuch in den russischen Nationalfarben. Den Passagieren ist ein Verlassen des Zuges strikt untersagt. Sie müssen in ihren Schlafwagen bleiben, selbst die Toiletten werden versperrt. Nur Zugbegleiter und Lokführer dürfen den litauischen Bahnsteig betreten, um das Eis von den Bremsen zu entfernen, das sich im Winter bilden kann.
„Man erkennt sie manchmal wieder“, erzählt Dainius, der seit zwanzig Jahren beim Grenzschutz arbeitet und nickt der russischen Zugbegleiterin zu. „Aber es sind nicht die Zeiten für ein Schwätzchen.“ Er behält den Bahnsteig im Auge, während sechs Beamte den Zug betreten, um die Pässe der Passagiere zu kontrollieren und zu prüfen, ob alle über ein UTD verfügen, eine Transiterlaubnis, die bei der litauischen Botschaft beantragt werden muss.
Um zu verhindern, dass Spione oder Soldaten quer durch die Nato reisen, sind die Hürden für die Transiterlaubnis hoch. Die Botschaft nimmt Hintergrundchecks der Antragsteller vor und will Nachweise für triftige Reisegründe: etwa Familienangehörige, Immobilien oder ein laufendes Studium in Kaliningrad. Soldaten sind vom Transit ausgeschlossen, militärisches Material und Dual-Use-Güter werden nicht transportiert.
Ein Restrisiko aber bleibt. Und obwohl das eigene Territorium betroffen ist, hat Litauen in der Transitfrage nicht viel mitzureden. Das Abkommen besteht zwischen Russland und der Europäischen Union, welche auch für die Kosten aufkommt. Transitsicherheit ist teuer, 25 Millionen Euro stellt die EU für die Überwachung der Züge zur Verfügung.
Berlin ist nur wenige Hundert Kilometer entfernt
Im Juni 2022, vier Monate nach Beginn des Ukrainekrieges, hatte es Streit um das Transitabkommen gegeben. Litauen hatte den Transport von Kohle, Stahl und Eisen nach Kaliningrad über sein Territorium verboten und zahlreiche Güterzüge nicht hineingelassen. Die Begründung: Man halte sich an geltende Sanktionsbestimmungen.
Russland, dass seine Exklave nicht alleine auf dem Seeweg versorgen kann, drohte mit harten Konsequenzen. Für Moskau ist die Oblast Kaliningrad als Brückenkopf mitten in der Nato strategisch und militärisch bedeutsam. Das Gebiet verfügt über einen Ostseehafen und ist stark militarisiert, Berlin liegt nur 460 Kilometer entfernt. Doch auf Druck der Europäischen Kommission durften die Züge von Juli 2022 an wieder die Transitroute nehmen.
Eine Stunde steht der Zug am Bahnhof Kybartai. In den Waggons lümmeln Russen in Jogginganzügen auf ihren Pritschen, manche essen Fertignudeln oder trinken Tee – heißes Wasser gibt es in jedem Waggon. Von den oberen Liegen baumeln Kinderfüße herab, auf den Tischen stehen Saftflaschen und Kekse. Es tönt gedämpftes Lachen hinter Glas.
Weiter vorne steht der russische Mechaniker an der Lok. Immerhin den Bahnsteig darf er betreten und raucht ein Zigarillo. „Man sieht Kaliningrad immer noch an, dass es mal Deutsch war“, erzählt er. Backsteingotik, Stadtmauern, Altstadtreste. Schön sei es, er empfehle jedem, mal hinzureisen. Irgendwann geht die Reise weiter, drei Stunden durch Litauen bis Kena, das letzte Dorf vor Belarus, wo der Zug wieder im russischen Reich verschwinden wird.
Fliehender Russe wird mit dem Hubschrauber gejagt
„Zwischenfälle gibt es nur selten“, berichtet Rustamas Liubajevas, Kommandeur des litauischen Grenzschutzes. Seit 2003 habe es nur fünf Fluchtversuche gegeben, zuletzt im Juni. Ein 21-jähriger Russe hatte bei voller Fahrt die Zugtür aufgerissen und war in den litauischen Wald hinausgesprungen. Er sei mit Hubschraubern gesucht und eingefangen worden. „Manchmal führen die Passagiere Symbolik mit sich, die in Litauen nicht gestattet ist“, sagt Liubajevas. Das können etwa Zeichen sein, die den Ukrainekrieg verherrlichen, etwa der Buchstabe Z auf Kleidungsstücken. „Womöglich wird dieser Person dann die Einreise verweigert.“ Außerdem komme es manchmal zu medizinischen Notfällen. „Dann lassen wir den Zug am nächstmöglichen Punkt stoppen und die Beamten kümmern sich, dass der Betroffene versorgt wird.“
Rokas V., ein weiterer Grenzer, erzählt, dass die Züge manchmal auch im Landesinneren halten müssten. In den heißen Sommern, wenn die Hitze der Bordelektronik zu schaffen mache. Vereinzelt würden die Züge nachts Elche anfahren und müssten dann stoppen.
Für den litauischen Grenzschutz ist das Anlass zur Nervosität: Ortungssysteme verfolgen die Position des Zuges, bei außerplanmäßigen Stopps wird Alarm ausgelöst. Außerdem schickt die litauische Regierung regelmäßig Hubschrauber und Drohnen mit, die den Zug auf seinen 227 Kilometern durch das Land begleiten.
Am anderen Ende Litauens liegt der Bahnhof Kena, knapp vier Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Als der Jantar einfährt, steht wieder ein halbes Dutzend Grenzschützer bereit, um Pässe zu stempeln und durchzuzählen, ob keiner der Reisenden verloren gegangen ist auf der Reise durch das Land. Vor den Zugfenstern am Bahnsteig hat die litauische Bahn vor drei Jahren Plakate angebracht, die russische Kriegsverbrechen zeigen. Niedergeschossene Männer in Butscha, Leichen im Schlamm, eine alte Dame im Krankenhausbett, die blutige Beinstümpfe hochreckt. Darunter steht: „Russland begeht in der Ukraine einen Genozid. Das passiert, weil du nicht daran glaubst.“
Die Grenzer klopfen an die Metalltür, die Zugbegleiterin mit dem weißblauroten Halstuch lässt die Männer wortlos hinein. In der verwaisten Bahnhofshalle stehen noch die Terminals, mit denen sich Russen und Belarussen früher zur Einreise registrieren konnten. Die Geräte sind nutzlos geworden, seit dem 1. März 2024 darf kein Passagier mehr den Zug verlassen, geschweige denn in Litauen einreisen – auch nicht mit Schengenvisum.
Ein Beamter der russischen Polizei, der ebenfalls im Zug Richtung Moskau unterwegs ist, setzt sich über das strenge Verbot der Zugbegleiterin hinweg, die Abteile zu verlassen. Der Uniformierte raucht eine Zigarette auf der untersten Sprosse der Abteiltür. Seinen Fuß auf den litauischen Bahnsteig zu setzen wagt er aber nicht.
Der Zug fährt an. Die litauische Lok wurde abgekoppelt, weiter geht die Reise mit einem wuchtigen Ungetüm aus Belarus, das schwarzen Qualm erbricht. Hinter den Zugfenstern spielen Kinder, eine alte Frau winkt. Der Zug verschwindet im Wald. Die Hügel am Horizont gehören schon zu Belarus.
Julius Fitzke ist seit Juli 2025 Volontär bei der WELT im Ressort Außenpolitik.
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