Giorgia Meloni trat ihr Amt als italienische Ministerpräsidentin am 22. Oktober 2022 an. 100 Jahre nach dem Marsch des „Duce“ Benito Mussolini nach Rom – in einem spannungsgeladenen Klima, in dem sich die Angst vor einer Rückkehr des Faschismus, die Furcht vor einer eskalierenden Wirtschafts- und Finanzkrise und das Risiko eines Ausstiegs aus der EU und der Euro-Zone widerspiegelte. Zweieinhalb Jahre später hat Meloni all diejenigen widerlegt, die ihr ein unvermeidliches Scheitern vorhersagten. Sie präsentiert eine gute Bilanz und hat sich als starke Frau in Europa positioniert.
Giorgia Meloni hat sich mit Autorität durchgesetzt und auch ihre Popularität bewiesen, die durch ihren klaren Sieg bei der Europawahl im Juni 2024 noch einmal unterstrichen wurde. Sie ist eine starke, die Verfassung respektierende Führungskraft, sorgt für Stabilität in ihrer Regierung und der Institutionen, und das zu einer Zeit, in der etwa die Fünfte Republik in Frankreich wieder in dieselben Irrtümer und die Ohnmacht der Vierten Republik verfällt. Sie gibt sich nicht damit zufrieden, nur zu kommunizieren, sondern sie handelt.
Ihre Politik der Wiederherstellung der Sicherheit und des Kampfes gegen die illegale Einwanderung durch die Kontrolle des Zustroms sowie die Auslagerung von Migranten, vor allem nach Tunesien und Albanien, kann als Erfolg gewertet werden: Die Anzahl der illegalen Einreisen ging 2024 um 58 Prozent zurück. Gleichzeitig hat Giorgia Meloni den Status von 450.000 eingereisten Personen legalisieren lassen und so auf den Bedarf der Unternehmen nach Arbeitskräften reagiert. Inzwischen liegt die Anzahl der ausländischen Arbeitnehmer bei 2,4 Millionen und damit bei 10,1 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung, die wiederum 8,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften.
Tatsächlich ist in der italienischen Wirtschaft eine positive Dynamik erkennbar, die im Vergleich zur gesamten Euro-Zone überdurchschnittlich ausfällt. Dank einer effizienten Verteilung des europäischen Konjunkturprogramms in Höhe von 194 Milliarden Euro wuchs die Wirtschaft 2023 und 2024 um 0,7 Prozent. Die Beschäftigungsquote ist auf einen Rekordwert von 63 Prozent gestiegen, während die Arbeitslosigkeit von 7,1 auf 6,2 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung zurückging.
Hinzu kommt, dass sich Italien aus der Zwangslage des doppelten Defizits befreit hat. 2024 war es das einzige Land in der Gruppe der G 7, das einen Primärüberschuss im Haushalt erzielen konnte – in Höhe von 9,6 Milliarden Euro beziehungsweise 0,44 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Gleichzeitig sank das öffentliche Defizit in Italien von 7,2 auf 3,4 Prozent des BIP und wird in diesem Jahr sogar unter die Drei-Prozent-Marke fallen. Die Verschuldung des Landes hat sich bei 135,3 Prozent des BIP zumindest stabilisiert und befindet sich weiterhin auf einem tragbaren Niveau.
Giorgia Meloni hat es außerdem geschafft, einen beeindruckenden diplomatischen Durchbruch zu erzielen, dessen Ziel darin besteht, Italien als Brücke zwischen den liberalen und den illiberalen Demokratien in Europa, zwischen der Europäischen Union und den USA sowie Europa und Afrika zu positionieren. Sie hat eine politische und industrielle Achse mit Deutschland gebildet, die sich auf europäischer Ebene fortsetzt, und zwar durch ein stillschweigendes Bündnis mit der Europäischen Volkspartei (EVP).
Das wiederum sorgt für große Nähe zu Friedrich Merz, Ursula von der Leyen und Manfred Weber. Dank der besonders guten persönlichen Beziehungen zu Donald Trump und Elon Musk konnte sie sich bei den Zollverhandlungen als eine Art Botschafterin der EU etablieren und plädiert nun für eine Freihandelszone ohne jegliche Einfuhrzölle zwischen beiden Seiten. Überdies ist sie auch im Maghreb und in Afrika ausgesprochen aktiv, wo sie die nach dem Rückzug Frankreichs vom afrikanischen Kontinent vakante Position übernommen hat.
Die von Giorgia Meloni verfolgte Politik ist nicht neofaschistisch. Sie gibt sich keineswegs als Revolutionärin und hat auch nicht vor, eine Synthese zwischen Sozialismus und Nationalismus herbeizuführen oder die Kluft zwischen Rechts und Links zu überbrücken, sondern eher, diese wieder herzustellen.
Sie hält sich auch nicht an das von Viktor Orbán entwickelte und dann von Donald Trump übernommene Modell der illiberalen Demokratie, da sie weder ihre Gegner ausgeschaltet noch versucht hat, die Wirtschaft von Oligarchen kontrollieren zu lassen. Sie hat auch nicht die Justiz, die Universitäten, Medien oder Kultur unter ihre Kontrolle gebracht oder gar ihre Diplomatie der von Wladimir Putins Russland angepasst.
Wirtschaftspolitik ist positiv für Unternehmen
Giorgia Meloni hat stattdessen eine originelle Form des Liberal-Populismus erfunden, der in Europa auf ein immer größeres Interesse stößt und der sich zum Ziel gesetzt hat, die Mehrheit auf dem Kontinent zu übernehmen. Die Wirtschaftspolitik ist ausgesprochen positiv für Unternehmen und den Freihandel, wobei gleichzeitig ein konsequenter Wirtschafts-Patriotismus betrieben wird.
Während Emmanuel Macron von einer Angebotspolitik spricht, wird diese von Giorgia Meloni bereits erfolgreich umgesetzt, indem sie den Staat reformiert, wenig produktive öffentliche Ausgaben kürzt und den Arbeitsmarkt liberalisiert, Innovation fördert, die Reduzierung der Energieabhängigkeit plant und die Wettbewerbsfähigkeit durch die Erschaffung eines nationalen Atomunternehmens verbessern will.
Ihre innenpolitische Linie beruht auf der Wiederherstellung der Sicherheit und dem Kampf gegen die illegale Einwanderung und entspricht damit der Grundhaltung der rechten Koalition und gleichzeitig den obersten Prioritäten der Bürger. Bezüglich der Werte wird ein konsequenter Konservatismus vertreten, der sich vor allem in der Familienförderung widerspiegelt – und zwar durch Unterstützungsmaßnahmen im Kampf gegen die demografische Krise (1,24 Kinder pro Frau), der Religion und des Patriotismus, während man der sogenannten „Woke“-Ideologie mit entschiedener Ablehnung gegenübersteht.
Die Diplomatie wird vom Engagement für die Einheit des Westens bestimmt, die sowohl auf einer proeuropäischen als auch atlantischen Position beruht, mit dem ehrgeizigen Ziel, die Rolle des Vermittlers zwischen der Europäischen Union und der Trump-Regierung zu spielen, und zwar sowohl im Handelskrieg als auch in den Bemühungen um einen Frieden in der Ukraine.
Meloni führt Mario Draghis Politik fort
Als treue Anhängerin von Machiavelli, der in seinem Werk „Il Principe” (Der Fürst) betont, „regieren heißt, glauben machen“, versteht es Giorgia Meloni perfekt, ihre innenpolitische Popularität und ihren außenpolitischen Einfluss zu optimieren und dabei gleichzeitig die strukturellen Missstände in Italien zu verbergen: die düstere demografische Entwicklung mit einer Abwanderung von 550.000 meist qualifizierten Jugendlichen innerhalb von 20 Jahren, die unzureichende Produktivität und der Rückgang des Bildungswesens, die schweren Last der Schattenwirtschaft, die schwindelerregenden Ungleichheit zwischen dem Norden und dem Süden des Landes, die Schwächen und die Korruption des Staates und die auf 1,51 Prozent des BIP begrenzten Verteidigungsausgaben.
Dabei nimmt sie das Scheitern der ersten populistischen Welle, die 2016 losbrach und dann aufgrund des Brexit-Debakels, der obskurantistischen Positionen während der Corona-Pandemie oder auch der Ablehnung der Marktwirtschaft wieder in sich zusammenbrach, durchaus zur Kenntnis. Sie integriert die neue geopolitische Ausgangslage, die sich aus dem Niedergang der Globalisierung, der von den autoritären Imperien gegen die Demokratien initiierten Konfrontation und der Eskalation der Gewalt ergibt.
Sie führt die Politik von Mario Draghi fort, bringt Italien damit wieder in Schwung und räumt mit dem Image des dekadenten Landes auf. Und so gibt sie auch den Italienern wieder das Gefühl, dass sie selbst über ihr Schicksal entscheiden und an der Geschichte teilhaben, statt sie nur zu erdulden.
Nicolas Baverez ist Wirtschaftswissenschaftler und prognostizierte bereits vor 20 Jahren den Absturz Frankreichs. Zuletzt wurde auch Deutschland mehrfach zum „kranken Mann Europas“ erklärt. Die neuen Antriebskräfte der EU verortet der Ökonom nun in Skandinavien und den südeuropäischen Ländern. In seinem jüngsten Buch „Sursaut“ (dt.: Weckruf) erklärt er, warum die einstigen Führungsmächte zurückgefallen sind.
Dieser Kommentar erschien zuerst in der französischen Zeitung „Le Figaro“, die wie WELT zur Leading European Newspaper Alliance (Lena) gehört. Übersetzt aus dem Französischen von Bettina Schneider. Redaktionell überarbeitet von Diana Pieper und Caroline Turzer.
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