Vor dem Haus dieser Frau herrscht Krieg. Mitten in Tel Aviv kämpfen hier Israelis gegen Israelis um die Seele des jüdischen Staates. „Feuert sie!“, skandieren die Demonstranten auf der einen Seite und: „Verbannt sie!“ Wieder andere singen: „Bibi, Bibi, König von Israel!“ Protestierende auf der anderen Seite halten Schilder hoch, auf denen steht: „Gali, wir halten zu Dir!“
Die Menge auf dieser Seite des Protest-Duells ist dreimal größer als die der Anhänger von Premier Benjamin „Bibi“ Netanjahu, schreiben Medien, die diese Szene vor ein paar Wochen schildern. Seither hat sich der Konflikt zwischen Netanjahu und Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara weiter zugespitzt. Die Juristin ist zu einer Symbolfigur für die Proteste gegen Netanjahu geworden. Dabei ist sie alles andere als eine Linke.
Ende März leitete Justizminister Yariv Levin ein Amtsenthebungsverfahren gegen Baharav-Miara ein. In naher Zukunft muss sie sich vor einem eigens zu bildenden Ausschuss verantworten. Dass die Regierung die Absetzung einer der obersten Vertreterinnen der Justiz betreibt, ist selbst in der spannungsgeladenen Demokratie Israel ein mehr als ungewöhnlicher Vorgang. Denn im israelischen Staatsaufbau hat das Amt der Generalstaatsanwältin eine besondere Funktion, die es so in keinem anderen Staat der Welt gibt.
Die Generalstaatsanwältin ist nicht nur die Chefanklägerin des Landes, sondern qua Amt auch die rechtliche Vertreterin und oberste Rechtsberaterin der Regierung. Ihr obliegt die erste verfassungsrechtliche Prüfung von Gesetzesvorhaben.
In dieser Rolle hat sich Baharav-Miara immer wieder gegen Netanjahus Politik gestellt: Sie lehnt seine Justizreform ab, in der fast alle einschlägig bewanderten Juristen eine Entmachtung des Obersten Gerichtshofs und eine Aushöhlung des demokratischen Rechtsstaats sehen; sie fordert eine Untersuchungskommission zu den Hintergründen des Versagens israelischer Sicherheitskräfte beim verheerenden Hamas-Anschlag vom 7. Oktober 2023; und sie treibt die Korruptionsverfahren gegen Netanjahu voran. Auf allen möglichen Ebenen ist diese Frau ein Hauptproblem für Netanjahu. Und eine Hoffnung für all seine Kritiker.
Als Begründung für das Amtsenthebungsverfahren nennt Justizminister Levin ein „gestörtes Vertrauensverhältnis“ zwischen Regierung und Staatsanwältin. Aharon Barak, ehemaliger Präsident von Israels Oberstem Gerichtshof, hält das für Unsinn. „Das Amt der Generalstaatsanwältin kann nicht vom Vertrauen der Regierung abhängen – schließlich muss man in diesem Amt der Regierung ihre juristischen Grenzen aufzeigen“, sagt Barak WELT AM SONNTAG. „Als ich selbst Generalstaatsanwalt war, habe ich Premier Jizchak Rabin wegen Devisenvergehen angeklagt, obwohl er mich eingesetzt hatte. Das gehört zum Job dazu.“
Übrigens trat Rabin damals, 1977, von seinem Amt zurück. Barak, heute 88 Jahre alt, ist der vielleicht angesehenste Jurist des Landes. Ihn entsandte die Regierung Netanjahu als Ad-Hoc-Richter an den Internationalen Gerichtshof zur Verhandlung über den Vorwurf des Völkermords im Gaza-Krieg. Aber das Verfahren der Regierung gegen Baharav-Miara scheint Barak regelrecht zu entsetzen.
Sollte Netanjahu Baharav-Miara durch einen willfährigen Nachfolger ersetzen, greife er damit die Gewaltenteilung an. „Wir nähern uns immer mehr einer illiberalen Demokratie“, warnt Barak. In Israel drohe ein System wie in Ungarn oder der Türkei, wo es zwar noch Wahlen gibt, aber keine echte Kontrolle der Regierung mehr. „Ich weiß nicht, was mit Netanjahu los ist, ich bin kein Psychiater“, sagt Barak. „Früher war er durchaus verfassungstreu. Vielleicht hat der Korruptionsprozess ihn verändert. Aber sicher ist: Die Generalstaatsanwältin ist die letzte Instanz, die Israels Obersten Gerichtshof noch schützt.“ Es sei furchtbar, was Baharav-Miara zu ertragen habe. „Keiner von uns musste so etwas aushalten. Sie ist eine sehr tapfere Frau.“
Tatsächlich spricht vieles dafür, dass die Top-Juristin ihren Posten gerade deshalb erlangt hat, weil sie eine Kämpfernatur ist – nicht zuletzt nach den konservativen Maßstäben des Netanjahu-Lagers. Ins Amt brachte sie 2022 der eher rechte Justizminister Gideon Saar, der heute Netanjahus Außenminister ist. Als Grund für die Auswahl Baharav-Miaras galt ihre relative Ferne zum linksliberal geprägten Justizapparat. Vor ihrer Ernennung hatte sie einige Jahre als Anwältin einer Wirtschaftskanzlei gearbeitet.
In den Jahren zuvor, während derer sie die Staatsanwaltschaft von Tel Aviv geleitet hatte, war sie unter anderem wegen ihres harten Kurses gegen Klagen palästinensischer Bürger des Westjordanlands aufgefallen. Ihren Wehrdienst absolvierte Baharav-Miara in einer Nachrichtendienst-Einheit, auch ihr Ehemann und Vater ihrer drei Kinder hat für einen Geheimdienst gearbeitet. Öffentliche politische Äußerungen Baharav-Miaras sind nicht bekannt, aber auf Israels Konservative dürfte ihr Lebenslauf durchaus vertrauenerweckend wirken. Ihr Fall steht sinnbildlich dafür, dass sich der Widerstand gegen Netanjahus Staatsumbau von der alten Aufteilung zwischen Rechts und Links gelöst hat.
Storys von Disziplin und Unbeugsamkeit
Es braucht sicherlich eine gewisse Härte, um in Israel als erste Frau den Posten der Generalstaatsanwältin zu erlangen. Über Baharav-Miara kursieren Storys von Disziplin und Unbeugsamkeit. Dass ihr Chauffeur sie auf dem Heimweg von der Arbeit noch spätabends zum Joggen im Park absetzt, weil sie nicht ins Bett geht, bevor sie nicht eine bestimmte Zahl von Schritten absolviert hat. Dass sie dabei über ihre Kopfhörer noch ein paar letzte Telefonate mit Untergebenen führt. Dass sie und ihr einstiger Förderer Saar sich im Kabinettssaal angebrüllt hätten, als es um die Untersuchungskommission zum 7. Oktober ging. Seitdem, so heißt es, schütze auch der Außenminister sie nicht mehr, und so sei es zum Amtsenthebungsverfahren gekommen.
„Ich weiß nicht einmal, welche politische Meinung Baharav-Miara hat, und es ist mir auch egal – weil genau das ihre besondere Stärke ist: Sie ist nicht politisch, sie ist professionell“, sagt Karine Nahon, eine der Organisatorinnen der Proteste gegen die Justizreform. Im Hauptberuf ist sie Dekanin des Instituts für Kommunikationswissenschaften der Reichman-Universität in Herzlia. Ihr Forschungsgebiet sind Gatekeeper, also Torwächter in Informationssystemen. „Wer die Regeln in einer Demokratie kontrolliert, kontrolliert auch die Machtverhältnisse“, sagt Nahon.
Deshalb versuche Netanjahu, die Regeln zu ändern und Torwächter wie Baharav-Miara loszuwerden. Die Professorin gehört zu einem Kreis, der etwas mehr als 100 lokale Gruppen bei den Protesten koordiniert. Etwa 1,5 Millionen Israelis kann ihr Netzwerk direkt erreichen. „Zu dem Protest vor Baharav-Miaras Haus musste man nichts organisieren. Man hatte von der Demo der Rechten dort gehört, da sind die Leute von selbst gekommen, um sie zu schützen.“
„Viele Menschen sind wütend“
Der Fall Baharav-Miara hat die Protestbewegung gegen die Verfassungsreform wiederbelebt, die durch den Terrorangriff vom 7. Oktober und die Demonstrationen für die Freilassung der israelischen Geiseln in den Hintergrund gerückt war. „Viele Menschen sind wütend, dass die Regierung mitten im Krieg gegen die Generalstaatsanwältin vorgeht, um die Demontage des Obersten Gerichts voranzutreiben“, sagt die Anwältin und Frauenrechtsaktivistin Miki Roitman, die nach dem Terrorangriff bei der Aufarbeitung der systematischen sexualisierten Gewalt der Hamas half.
Die Bewegung gegen die Justizreform sei jetzt noch vehementer, weil Netanjahu versuche, die Verantwortung für den 7. Oktober auf andere abzuwälzen. „Genau deshalb will er die Rechte des Obersten Gerichtshofs beschneiden und eine Untersuchungskommission verhindern. Und darum geht er gegen Baharav-Miara vor.“ Die Hintergründe des Anschlags ließen sich nur aufarbeiten, wenn es eine unabhängige Justiz gebe. Und nur dann könne man Israels Sicherheit wirklich schützen. „Der Fall von Baharav-Miara zeigt doch auch: Wenn Gerichte ihre Unabhängigkeit verlieren, dann verlieren Bürger ihre Rechte.“
Gegen die Absetzung von Baharav-Miara könnte noch vor dem Obersten Gericht Israels geklagt werden. Die Richter dort haben sich schon klar gegen Netanjahus Justizreform gestellt, weshalb es durchaus sein kann, dass sie auch die Generalstaatsanwältin schützen. Aber sicher ist das keineswegs.
„Das Problem ist, dass dieses Verfahren nicht genau festgeschrieben ist“, sagt der frühere Oberste Richter Barak. Letztlich könne die Regierung die Sache mit einem simplen Verwaltungsakt entscheiden. „Ich hoffe sehr, dass es Netanjahu nicht gelingt, Baharav-Miara abzusetzen. Das könnte sonst in einem Bürgerkrieg enden.“
Daniel-Dylan Böhmer, Senior Editor im Ressort Außenpolitik, bereist die Länder des Nahen Ostens seit Jahrzehnten. Er befasst sich vor allem mit regionalen und globalen Sicherheitsthemen und wird regelmäßig als Experte in nahöstlichen TV- und Radiosendern befragt.
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